Kurwesen in Wiesbaden
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Von den Anfängen bis Ende des 18. Jahrhunderts
Bereits die Römer nutzten Wiesbadens Kochsalzthermen zu Heilzwecken. Gesicherte Nachrichten über den Badebetrieb im Mittelalter stammen von 1232. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist eine kontinuierliche Nutzung der Quellen zu therapeutischen Zwecken bezeugt. Bis ins 18. Jahrhundert hinein nutzte man das Wasser der Thermalquellen, die mit bis zu 67 °C zu den heißesten in Europa gehören, nach entsprechender Abkühlung hauptsächlich zum Baden.
Die seit Beginn des 17. Jahrhunderts erschienenen zahlreichen balneologischen Abhandlungen schrieben einem Bad Heilkraft zu bei einer Fülle von Erkrankungen wie Nierenleiden, Husten, Gicht, Beschwerden des Bewegungsapparates, Durchblutungsstörungen, Ausschlägen, Frauenleiden, Bleichsucht und Angstzuständen. Bei einer Badedauer von bis zu 1½ Stunden sollten sich die Badenden nur bis zum Nabel in das Wasser setzen. Um Erkältungen zu vermeiden, sollten sie eine Haube tragen und den Oberkörper in einen Umhang aus Leinen hüllen. Nach dem Bad sollte der Gast sich rasch in erwärmte Tücher wickeln und im Bett den einsetzenden Schweißausbruch abwarten.
Gebadet wurde in Wiesbaden in den Badeherbergen, die seit dem 15. Jahrhundert namentlich fassbar sind. Zu den ältesten gehören der Schützenhof (1. Hälfte 15. Jahrhundert), Bock (1486), Schwan (1471), Wilder Mann (1485), Krone (1455), Stern (1485) und Rose (1500). Nach 1600 kamen nur drei Badeherbergen neu hinzu: Rebhuhn (1. Hälfte 17. Jahrhundert), Zwei Böcke (1618) und Sonnenberg (1735). Eine Badeherberge bestand aus dem Wohnhaus und dem zum Hof hin angebauten Badhaus und hatte im Schnitt fünf bis zehn Zimmer. Vornehmere Häuser wie der »Goldene Adler« und der »Schützenhof« verfügten über mehr als 20 Zimmer. In jedem Badhaus gab es mindestens zwei, in größeren Häusern vier Becken. Genutzt wurde stets nur die Hälfte, in den verbleibenden kühlte das heiße Wasser während eines Tages bis zur idealen Badetemperatur aus. Die Badebecken von rund 12 m² Fläche und ca. 60 – 80 cm Tiefe boten Platz für bis zu 16 Personen. Stand nur ein Becken zur Verfügung, badeten Männer und Frauen gemeinsam. Auf Druck der Geistlichkeit unterteilten Ende des 17. Jahrhunderts die Besitzer die Bassins durch hölzerne Sichtblenden in separate Abteilungen für Männer und Frauen. Der Fußboden der Badhäuser war mit Sandsteinplatten ausgelegt. Nur im ersten Haus am Platz, dem »Goldenen Adler«, gab es Marmorböden. Die Wände waren weiß getüncht, im 1783 modernisierten »Schützenhof« waren sie mit Fayencekacheln gefliest. Die Dächer der Badhäuser enthielten kaminähnliche Öffnungen, durch die der Dampf des heißen Wassers abziehen konnte.
Da im 18. Jahrhundert das Baden zu einer privaten, intimen Verrichtung wurde, rüsteten die Wirte der Badeherbergen die Gemeinschaftsbecken um. Trennwände teilten die Becken in kleine geschlossene Zellen ab. Diese primitiven Badezellen wichen Ende des 18. Jahrhunderts in den modernisierten Häusern geräumigen Einzelbädern. Der Schützenhof verfügte nach dem Umbau über 32 Badekabinette mit Wärmekörben für Handtücher, Ruhebank und einem Wasserbecken von ca. 2 × 1,70 m und ca. 90 cm Tiefe.
In Wiesbaden kurte ein kleinbürgerliches Publikum: Handwerksmeister, wohlhabende Bauern, die Angehörigen der Stadtverwaltung kleinerer Städte, Gesellen und Soldaten der unteren Mannschaftsgrade. Für die beträchtliche Zahl von Armen und Kriegsinvaliden, die zur Kur kamen, trug die Heimatgemeinde oder das Armen- und Hospitalbad die Kosten. Die Gäste, die aus einem Umkreis von 50 km anreisten, blieben eine Woche, längere Aufenthalte waren selten. Adlige und reiche Bürger bildeten eine Minderheit.
Für die Bevölkerung stellte der Badebetrieb einen bedeutenden Erwerbszweig dar. Behauptete Wiesbaden im ausgehenden Mittelalter unangefochten seine Stellung unter den südwestdeutschen Thermalbädern, erhielt die Stadt seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Konkurrenz durch die preisgünstigeren und immer beliebter werdenden Trinkkurorte. Besonders seit dem Aufstieg Langenschwalbachs nach 1650 erlitt der Kurbetrieb einen dramatischen Einbruch. Die Stadtverwaltung unternahm nichts, obwohl die Besitzer der Badeherbergen im Rat die Mehrheit hatten. Auch die nassauischen Regenten, mit dynastischen und außenpolitischen Problemen beschäftigt, blieben bis Ende des 17. Jahrhunderts im Gegensatz zu ihren Standesgenossen in benachbarten Territorien untätig.
Erst Fürst Georg August zu Nassau riss 1690 Wiesbaden jäh aus diesem Dornröschenschlaf heraus und ordnete den Ausbau der Stadt und die Sanierung des heruntergekommenen Bäderviertels im »Sauerland« an. Da der Fürst keinen Zugriff auf die in Privatbesitz befindlichen Quellen hatte, konnte er selbst keine neuen Badeherbergen errichten, sondern war auf die Zusammenarbeit mit den Bürgern angewiesen. Mit Steuervergünstigungen regte er sie zum Um- und Neubau ihrer Häuser an. Auf seine Initiative hin erhielt das Bäderviertel mit dem Kranzplatz ein neues Zentrum, außerhalb der Stadtbefestigung entstand der Herrengarten, und im Osten und Westen der Stadt luden schattige Alleen zum Promenieren ein. Er gab balneologische Werbeschriften in Auftrag, die den neuesten Erkenntnisstand der Heilkunde widerspiegelten, und verbesserte die medizinische Versorgung. Dieses Maßnahmenbündel zeitigte bald erste Erfolge. Der Kurbetrieb belebte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts leicht.
Der große Durchbruch wollte sich vorerst nicht einstellen, denn Georg August verstarb 1721, noch bevor er alle geplanten Projekte verwirklichen konnte. Seine Nachfolger aus der Linie Nassau-Usingen waren bereit, die Kur weiter zu fördern. Das Beharrungsvermögen der Bürger machte es jedoch schier unmöglich, Verbesserungen durchzusetzen. So scheiterte der Bau des von den Gästen gewünschten Gesellschaftssaales am erbitterten Widerstand der Badewirte. Da die landesherrlichen Behörden nicht auf die Kooperation der Bürger zählen konnten, ergriffen sie selbst die Initiative. Direkt vor den Toren der Stadt ließen sie einen neuen Park im englischen Stil mit Verkaufsbuden ausländischer Händler und einem kleinen Café anlegen, in dem Tee, Kaffee, Schokolade und Likör ausgeschenkt wurde. An Sommerabenden sorgte eine Illumination des Parks für festliche Stimmung. Zusammen mit der angrenzenden Allee zum Wiesenbrunnen, einem immer schon sehr beliebten Spazierweg, hatte die Regierung Wiesbaden damit zu einem ansprechenden Erholungszentrum verholfen.
Auch das eintönige kleinstädtische Vergnügungsangebot wurde verbessert. Seit 1765 organisierte die Obrigkeit ein Kontrastprogramm mit Blaskonzerten auf dem Kranzplatz und regelmäßigen Gastspielen von Wanderbühnen und ließ 1771 das in allen gesellschaftlichen Kreisen beliebte Glücksspiel zu. Zeitgleich setzte sie zu einer groß angelegten Disziplinierungskampagne der Bevölkerung an.
Fast 300 Verordnungen, die sich auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens bezogen, zielten darauf ab, die Einwohner zu Ordnungssinn im obrigkeitlichen Verständnis zu erziehen und angenehme Rahmenbedingungen für die Kur zu schaffen. Die Einhaltung dieser Vorschriften überwachte ein äußerst effizient arbeitender Polizeiapparat. Die Anstrengungen zahlten sich aus. Seit den 1770er-Jahren belebte sich der Kurbetrieb. Zusätzlich kamen vor allem an den Wochenenden zahlreiche Gäste aus Mainz und Frankfurt. Wiesbaden hatte damit eine zusätzliche Funktion als Naherholungsort erhalten.
Die Wiesbadener Kur im Herzogtum Nassau
Bald nach 1790 stagnierte die Entwicklung. Grund hierfür waren neben den beginnenden napoleonischen Kriegen die in der Nachbarschaft entstandenen spektakulären Kuranlagen wie z. B. Hanau-Wilhelmsbad. Kurbezirke dieses Zuschnittes entsprachen den Wünschen der »Guten Gesellschaft«, der tonangebenden Schicht aus Adel und Teilen des gehobenen Bürgertums. Diese achtete im fortschreitenden 18. Jahrhundert auf Standestrennung und zog die neuen Kurbezirke den multiständisch frequentierten Bädern vor. Der Aufenthalt in einem solchen Bad war nun weniger eine Gesundheits-, denn eine Gesellschaftskur.
Bereits unmittelbar nach Gründung des Herzogtums Nassau waren sich Staatsregierung und Herzogshaus einig, in Wiesbaden ein Kurgebiet dieses neuen Typs anzulegen. Das neue Kurviertel sollte neben auswärtigen zahlungskräftigen und vornehmen Gästen auch der »Guten Gesellschaft« des Herzogtums ein Forum zur Selbstdarstellung bieten. Planung und Durchführung lagen in den Händen der Regierung, die damit die staatlichen Vorstellungen ungehemmt von stadtbürgerlichen Interessen, die im 18. Jahrhundert jede Initiative blockiert hatten, umsetzen konnte.
Bereits 1810 wurde das von einer Aktiengesellschaft finanzierte Herzstück der Anlage, der Kursaal eingeweiht (altes Kurhaus), das ausschließlich als gesellschaftliches Zentrum diente. Die klassizistische Fassade traf mit ihrer Schlichtheit den Geschmack der Bürger, während das luxuriöse Innere mit Fürstenloge, Galerien und den Prunksälen den Wünschen eines adligen Publikums nach Repräsentation entsprach. Die Akzeptanz, die der Kursaal bei den gehobenen Schichten fand, trug entscheidend zu Wiesbadens fulminantem Aufstieg bei. An den Kursaal schloss sich ein Park an. Dazu wurde der aus dem 18. Jahrhundert stammende barocke Herrengarten nach Plänen berühmter Gartenarchitekten in einen englischen Park umgestaltet. In der 1810 neu erbauten Brunnenkolonnade mit exklusiven Geschäften fand die vornehme Gesellschaft den Luxus-Verkaufsraum, der es ihr erlaubte, durch das Konsumverhalten Wohlstand zu demonstrieren.
1821 öffnete das von Christian Zais erbaute Badhaus Zu den Vier Jahreszeiten. Die Gäste fanden ein mit allem Luxus ausgestattetes Hotel mit Badeeinrichtungen, eleganten Zimmern, Salons und Restaurant vor. Das Haus arrivierte rasch zur einer der ersten Adressen in Deutschland. Komplettiert wurde das Kurviertel vom Theater, das den Gegenpol zu dem Kursaal bildete, einer Flaniermeile, der späteren Wilhelmstraße, und einem Villengebiet, das anschließend an das Kurareal entstand.
Damit der Gast, abgeschirmt von Belästigungen, ohne Störungen und Angst vor Kriminalität die Kur als Aufenthalt in einer friedvollen Oase erleben konnte, erließen die Behörden eine Fülle ordnungspolizeilicher Maßnahmen.
Entschlossen widmete sich die herzogliche Obrigkeit auch der Verbesserung der medizinischen Versorgung. Wissenschaftliche Quellenanalysen bekannter Chemiker dienten den nach Wiesbaden berufenen hoch qualifizierten Ärzten als Basis zur Erstellung detaillierter Indikationslisten. Unter Beachtung der neuesten Erkenntnisse der Balneotherapie wurde die Palette der angebotenen Therapien stetig erweitert. Die Trinkkur, bisher von untergeordneter Bedeutung, wurde offiziell als Kurmittel eingeführt. Innovativ waren die verschiedenen Hydrotherapien, zu denen unter anderem vielfältige Formen von »Douschen«, Packungen mit den eisenhaltigen Ablagerungen der Quellen, Molkekuren sowie Bewegungs- und Kräftigungstherapien gehörten.
Die Anwesenheit wirklich Kranker war in Wiesbaden unerwünscht. Ihr Anblick sollte die »heitere Gemütsverfassung« nicht beeinträchtigen, die Ärzte für den Kurerfolg als notwendig betrachteten. Aus dem Gesichtsfeld der Gäste verbannte man alles, was an Krankheit und Tod gemahnte. Medizinische Einrichtungen wurden weitab vom Kurviertel angesiedelt. Zugelassen wurden nur Spezialanstalten, die »saubere« Krankheiten, etwa orthopädische Leiden oder Augenerkrankungen, behandelten.
Herzog Friedrich August zu Nassau ging früh daran, durch gezielte Kulturpflege und ein angemessenes Unterhaltungsangebot Wiesbaden den Ruf des Provinziellen zu nehmen. Da Theatervorführungen ein essenzielles Freizeitvergnügen für die »Gute Gesellschaft« waren, engagierte er ein eigenes Ensemble, das 1827 von der provisorischen Spielstätte im Schützenhof in das neu errichtete Hoftheater zog. Darüber hinaus sorgten die Behörden für ein Unterhaltungsangebot, das ganz auf die Anforderungen der gehobenen Gesellschaft abgestimmt war. In der Abgeschlossenheit der Kuranlagen wurde seit 1805 regelmäßig Kurmusik angeboten. Kurtaxe und zusätzliche Eintrittsgelder ermöglichten es dem Publikum dabei unter sich zu bleiben und in Muße am helllichten Tag den Militärkapellen oder ausländischen Musikanten zu lauschen.
Einen Höhepunkt im Kuralltag stellten die Tanzveranstaltungen dar. Bälle gehörten zu den gesellschaftlichen Großereignissen. Die Teilnahme daran bildete ein Distinktionsmerkmal. Bei allen Tanzveranstaltungen blieben die höheren Stände unter sich, denn ab 1830 hielten strenge Kleidervorschriften und hohe Eintrittsgelder den unliebsamen Mittelstand fern. Die Exklusivität der Bälle war ein Markenzeichen Wiesbadens und steigerte die Attraktion als Kurort für die gehobene Gesellschaftsschicht. Einen Publikumsmagnet bildete auch das Hazardspiel. Der wohlhabende Teil der Gäste demonstrierte hier seinen Wohlstand und grenzte sich so von anderen Gesellschaftsschichten ab. Den Lese- und Wissenshunger stillten die neu eingerichteten Lesekabinette und Leihbibliotheken.
Straßenbaumaßnahmen zielten darauf ab, Wiesbaden zu einem neuen regionalen Verkehrsknotenpunkt zu machen. Eine neue Ära begann 1839 mit der Eröffnung der Taunusbahn. Da seit 1827 regelmäßig Dampfschiffe auf dem Rhein verkehrten, bestand eine direkte Verbindung zum Überseehafen in Rotterdam. Wiesbaden hatte seit Beginn des 19. Jahrhunderts dank dieser Maßnahmen einen deutlichen Anstieg der Besucherzahlen zu verzeichnen. Besuchten 1816 rund 10.000 Gäste die Stadt, stieg die Zahl bis 1865 auf 35.000 Personen. Gemessen an der Besucherzahl gehörte Wiesbaden zusammen mit Baden-Baden zu den führenden Kurorten Europas. Der Anteil ausländischer Besucher pendelte sich von 10 % 1810 in den 1850er-Jahren bei ca. 45 % ein. Mit rund 2.000 Gästen (25 %) stellten seit den 1830er- bis in die 1860er-Jahre die Engländer das größte Kontingent, gefolgt von Holländern und Belgiern. Russen und Franzosen stellten durchschnittlich jeweils 1.200 Besucher. US-Amerikaner reisten in nennenswerter Zahl erst mit der Einrichtung einer regelmäßigen Dampfschiffverbindung nach Übersee 1856 an. Der hohe Anteil ausländischer Besucher und verschiedenster Nationalitäten berechtigt, Wiesbaden als Weltbad zu bezeichnen; 1852 legte sich die Stadt den Beinamen Weltkurstadt zu.
Eine sozialgeschichtliche Analyse der Besucher Wiesbadens liegt bisher nicht vor. Der Anteil des Adels und der mittelständischen Besucher unter den Gästen sowie deren Herkunft lässt sich daher nicht beziffern. Es zeichnet sich jedoch ab, dass sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein krasser Umschwung in der sozialen Zusammensetzung des Kurpublikums vollzog. Von dem Kleinbürgerbad des ausgehenden 18. Jahrhunderts wandelte sich die Stadt aufgrund der staatlichen Fördermaßnahmen bis 1866 zu einem Treffpunkt der »Guten Gesellschaft«.
Kurleben im preußischen Wiesbaden von 1866 bis 1914
Die wichtigste Veränderung für das Kurleben nach der Annexion Nassaus 1866 betraf das Glücksspiel, das in Preußen schon seit längerer Zeit verboten war; die Wiesbadener Konzession lief 1872 aus. Eng damit verbunden war die Frage der Überführung der Kurbetriebe in städtisches Eigentum. Kurhaus, Kolonnaden, Kuranlagen und die Ruine Sonnenberg gingen zum 01.01.1873 in den Besitz der Stadt über. Zur Bestreitung ihrer neuen Aufgaben erhielt Wiesbaden 2,49 Millionen Mark aus dem Kur- und rund 300.000 Mark aus dem Verschönerungsfonds. Ferdinand Hey’l wurde zum ersten Kurdirektor Wiesbadens ernannt. So waren trotz der Beendigung des Glückspiels die finanziellen Voraussetzungen für eine gezielte Förderung des Kurlebens geschaffen.
Die gepflegte Atmosphäre der Stadt veranlasste nicht nur weiterhin steigende Kurgastzahlen, sondern auch den Zuzug vieler vermögender Pensionäre. Die Einwohnerzahl Wiesbadens überschritt 1905 die 100.000er-Marke, darunter waren 300 Goldmarkmillionäre. Die städtischen Einnahmen stiegen trotz des relativ geringen Hebesatzes und bildeten die finanziellen Voraussetzungen für die großen Investitionen der folgenden Jahrzehnte. Die Zahl der Kurgäste stieg weiter an, 1883 waren es rund 80.000, zehn Jahre später 100.000 und bis 1914 noch einmal doppelt so viele. Vor allem 1894–1906 entstanden weitere großzügige Hotelneubauten.
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts waren die Verbesserung der Stadthygiene sowie der Infrastruktur und – insbesondere nachdem im Sommer 1885 eine Typhusepidemie 59 Tote gefordert hatte – die Neukanalisation Wiesbadens dringend zu lösende Fragen. Auch die Versorgung mit sauberem Trinkwasser erforderte erhebliche Anstrengungen. Die Zahl der Typhustoten sank nach 1890 auf ein Drittel vergleichbarer Großstädte. Die hygienischen Zustände in den Bädern wurden verbessert und auch ästhetisch ansprechende öffentliche Bedürfnisanstalten eingerichtet. Die Straßen hielt man durch den nächtlichen Einsatz von Kehrmaschinen und Sprengwagen sauber. Der städtische Schlachthof, der im April 1884 am damaligen Stadtrand in Betrieb genommen wurde, trug ebenfalls zu besseren hygienischen Verhältnissen bei.
Das 1847/48 von einer privaten Gesellschaft errichtete Gaswerk an der Nikolasstraße (später Bahnhofstraße) ging 1873 in städtischen Besitz über. Mitte der 1880er-Jahre wurde es an den damaligen Stadtrand verlegt und seine Kapazität immer weiter ausgebaut. Bis 1913 erreichte die Länge des Rohrnetzes 138 km, die Anzahl der Straßenlaternen stieg auf 4.258. Ein Elektrizitätswerk wurde 1897/98 als Dampfkraftwerk errichtet und lieferte ab 1900 den Strom für den Betrieb der Straßenbahnen. 1906 wurde mit einer weiteren Dampfturbine eine Kehrichtverbrennungsanlage in Betrieb genommen.
Wesentlich für die Entwicklung Wiesbadens hin zur Kur- und Großstadt war der Ausbau des Öffentlichen Personenverkehrs. Die drei Bahnhöfe im unteren Teil der Rheinstraße bildeten den Verkehrsknotenpunkt, von dem aus die erste Pferdebahn 1875 über die Wilhelm- zur Röderstraße, später bis Beau Site geführt wurde. 1889 verkehrte eine Pferdebahn von dort über die Kirchgasse bis zum Kranzplatz und zur Röderstraße, gleichzeitig wurde eine Dampfbahnlinie eingerichtet. Im Mai 1896 nahm die erste elektrische Straßenbahnlinie den Betrieb auf. Seit 1906 verband die Straßenbahn Wiesbaden mit Mainz, Dotzheim und Erbenheim; außerdem richtete man eine Autobusverbindung nach Schlangenbad ein. Die Eröffnung des neuen Hauptbahnhofs 1906 »krönte die Entwicklung des neuzeitlichen Verkehrswesens« (Müller-Werth). Bereits seit Herbst 1888 war das beliebte Ausflugsziel Neroberg mit einer Drahtseilbahn erschlossen worden. Am 01.12.1885 konnte die erste Fernsprechanlage in Betrieb genommen werden.
Von großer Bedeutung für das Wiesbadener Kurleben waren kulturelle Einrichtungen, an erster Stelle das 1894 eingeweihte königliche Hoftheater. Im Mai 1896 wurden die ersten Kaiserfestspiele veranstaltet. Das größte Projekt war der 1907 vollendete Bau des neuen Kurhauses. Großen Wert legte man auch auf den Ausbau der Gartenanlagen, die durch die Schaffung eines Wegenetzes in den umliegenden Taunuswäldern, sowohl für Spaziergänger und Reiter als auch für Kutschen, ergänzt wurden.
Große innerstädtische Straßen, z. B. die Rhein- und die Ringstraße, baute man als Promenaden mit Fuß- und Reit- sowie teilweise mit Fahrradwegen aus. Es entstanden Sportanlagen für Lawn-Tennis (Rasen-Tennis) an der Blumenwiese und im Nerotal. Der Tattersall, eine Reithalle mit Ställen auch für Mietpferde, wurde 1905 fertig gestellt. Von dort aus führte ein Reitweg ins Nerotal und in die Taunuswälder.
Die Medizinal-Abteilung der Königlich-preußischen Regierung förderte die Professionalisierung der Kurmedizin, deren Schwerpunkt weiterhin auf der Badekur lag. Neben der aufkommenden Trinkkur wurden die Kochsalzthermen auch zu Inhalationskuren genutzt. Zum weiteren Aufblühen des Kurlebens trug eine 1875 erschienene Schrift über »Mineralquellen und Winteraufenthalt in Wiesbaden« bei. Danach kam der Trinkkur eine zunehmend medizinische Bedeutung zu. Voraussetzung für eine Erweiterung der Trinkkur war jedoch die Neugestaltung des Kochbrunnenbezirks durch die Verlegung des Hospitals und die Errichtung einer neuen Trinkhalle. Bis 1890 entstanden der heute noch vorhandene achteckige Quellpavillon, eine schöne Gartenanlage zur Taunusstraße hin und nach den Entwürfen des Wiesbadener Architekten Wilhelm Bogler eine Trink- und Wandelhalle (1887–90). Mit dem Abriss des alten Hospitals verschwand auch das städtische Armenbad. Ein Kurmittelhaus, das nach modernsten balneologischen und medizinischen Erkenntnissen eingerichtete städtische Kaiser-Friedrich-Bad, wurde 1913 eröffnet. Die neuen Städtischen Krankenanstalten entstanden außerhalb des Kurbezirks zwischen Kastell- und Platter Straße und wurden am 16.08.1879 bezogen. Um 1900 war Wiesbaden eine Stadt mit dichter und spezialisierter medizinischer Versorgung. Der Kurführer von 1910 verzeichnet fünf öffentliche Krankenhäuser, 23 Privat-Heilanstalten und über 200 Ärzte, darunter Spezialisten aus allen Sparten, 18 Zahnärzte und über 40 Masseure, wobei Gicht- und Rheumabehandlungen einen besonderen Stellenwert hatten.
Die »öffentliche Gesundheitspflege« wurde weiter ausgebaut. Der Verbesserung der hygienischen Verhältnisse dienten Polizeivorschriften und -verordnungen, die beim Verkauf von Nahrungsmitteln sowie bei der Herstellung von Milch in den landwirtschaftlichen Betrieben zu beachten waren. Fünf »Milchkuranstalten« mit eigener Stallhaltung lieferten »Kur- und Kindermilch«. Die chemische Untersuchung von Nahrungsmittelproben nach dem Reichs-Nahrungsmittelgesetz von 1879 führte das Chemische Laboratorium Fresenius im staatlichen Auftrag aus. Der Medizinalabteilung der Königlich-preußischen Regierung oblag die Bekämpfung von Infektionskrankheiten und die sanitätspolizeiliche Kontrolle der Ausübung von Heilberufen, des Verkaufs von Heilmitteln, der Apotheken, der Hygiene öffentlicher Gebäude und Plätze, der Krankenhäuser und Schulen, der gewerblichen Anlagen und Badhäuser sowie die Überwachung der Prostitution. 1903 wurde eine Sanitätswache ins Leben gerufen und der Feuerwehr angegliedert. Später wurde das gesamte Krankentransportwesen der Berufsfeuerwehr übertragen. Auch in Hinsicht auf die medizinische Versorgung und die Stadthygiene erschien Wiesbaden als ideale Kurstadt und Altersresidenz. Der »Kongreß für innere Medizin« fand am 20.04.1882 erstmals hier statt (Internistenkongress). Der Wiesbadener Ärzteverein charakterisierte 1891 in einer Denkschrift Wiesbaden als »Luxusstadt« im Unterschied zu »Fabrik- und Handelsstädten«.
Das Image als Stadt des gesunden Wohnens und der heilkräftigen Kuren, als Refugium für Rentiers und Pensionäre, zog immer neue Besucher und Einwohner an und wirkte zugleich als sozialer Auslesefaktor (Schüler). Vor allem in den Villengebieten an der Sonnenberger Straße, im Nerotal sowie zwischen Park- und Frankfurter Straße lebten die Träger von Adelsprädikaten, hohe Offiziere und Beamte, Fabrikanten, Kommerzienräte, Direktoren, Bankiers und Rittergutsbesitzer. Aber auch in der Rhein- und Bahnhofstraße und am Kaiser-Friedrich-Ring fanden wohlhabende Zugezogene standesgemäße Unterkünfte. Die Altstadt war mit ihren Geschäften, Handwerksbetrieben, Gasthäusern und Hotels von einer meist einheimischen mittelständischen Wohnbevölkerung geprägt. Im nordwestlich angrenzenden Bergkirchenviertel wohnte um 1900 vorwiegend das Dienstpersonal für den immensen Kurbetrieb, aber auch Sänger, Musiker, Theatermaler und -arbeiter, eine beträchtliche Anzahl von Tagelöhnern und viele Handwerker.
Das Unterhaltungs- und Zerstreuungsangebot richtete sich in erster Linie an die Kurgäste und wohlhabenden Zugezogenen. In den Trink- und Wandelhallen des Kochbrunnens versammelten sich die Kurgäste vom frühen Morgen an. Die Nachmittage und Abende hingegen galten dem Vergnügen und der Zerstreuung, wozu das Programm in Kurhaus und Kurgarten reichlich Gelegenheit bot. Der enge Zusammenhang von medizinischer und gesellschaftlicher Kur gewährte eine psychologische Entlastung: Die Medizin legitimierte die Vergnügungs- und Luxuskultur, die morgendliche Trinkkur die nachmittäglichen und abendlichen Vergnügungen (Fuhs). Zur Beschäftigung und Zerstreuung der Kurgäste und Rentiers existierte ein reiches Angebot an gesellschaftlichen Ereignissen, Bällen, Konzerten, Theater und Sport. Nachmittags und abends spielte das Kurorchester, je nach Witterung im Kurpark oder im Kursaal. Bedeutende Künstler wählten die Stadt als Wohnsitz oder hielten sich über Monate hier auf. Brahms vollendete in Wiesbaden seine 3. Sinfonie, die 1884 unter seiner Leitung im Kursaal uraufgeführt wurde. Gustav Freytag verlebte die Wintermonate in Wiesbaden und Friedrich von Bodenstedt sammelte einen Freundeskreis um sich.
Zukunftsweisend war das breite Angebot zur körperlichen und sportlichen Betätigung. Auch hier verband sich der heilende, die Gesundheit fördernde Aspekt mit dem gesellschaftlichen. Die reizvolle Umgebung der Stadt wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Kurlandschaft umgeformt. Spaziergänge in der Landschaft waren um 1900 fester Bestandteil des Kurlebens. Fuhs spricht sogar von einer »Versportung der Kur« um 1910. Dazu gehörten Reiten, Fahrradtouren, Ruderfahrten auf dem Rhein und auf dem Kurparkweiher, das Croquetspiel und Rasentennis sowie Eislaufen und Rodeln im Winter. Auch Pistolen- und Büchsenschießen waren beliebte Sportarten. Der 1905 gegründete Wiesbadener Tennis- und Hockey-Club (WTHC) veranstaltete internationale Turniere und wurde von der Kurdirektion und »namhaften Persönlichkeiten« gefördert. Dem Reitsport als exklusivem Vergnügen kam eine wichtige Rolle zu. Der morgendliche »Ausritt«, den auch Kaiser Wilhelm II. mit seinem Gefolge pflegte, gehörte zur gesellschaftlichen Selbstdarstellung. Auf der Pferderennbahn in Erbenheim konnte sich – wie in Baden-Baden – die mondäne Welt präsentieren. An großen Renntagen kamen 20.000 bis 25.000 Besucher. Weitere sportliche Attraktionen waren Fallschirmspringen, Ballonfahrten und Autorennen.
Literatur
Bleymehl-Eiler, Martina: Stadt und frühneuzeitlicher Fürstenstaat: Wiesbadens Weg von der Amtsstadt zur Hauptstadt des Fürstentums Nassau-Usingen (Mitte des 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts), 2 Bde., ungedr. Diss., Mainz 1998.
Bleymehl-Eiler, Martina: Die gepflegte Atmosphäre. Wiesbaden in der Kaiserzeit. In: Eisenbach, Ulrich u. a. (Hrsg.): Reisebilder aus Hessen. Fremdenverkehr, Kur und Tourismus seit dem 18. Jahrhundert. Hessisches Wirtschaftsarchiv, Schriften zur hessischen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte 5, Darmstadt 2001 [S. 73–84].
Bleymehl-Eiler, Martina: Ein kleines Elysium. Die nassauischen Bäder im 19. Jahrhundert. In: Nassau und seine Bäder in der Zeit um 1840, Wiesbaden 2005 [S. 69–117].
Fuhs, Burkhard: Mondäne Orte einer vornehmen Gesellschaft, Hildesheim [u.a.] 1992.
Die öffentliche Gesundheitspflege Wiesbadens. Von der Stadt Wiesbaden dargebotene Festschrift. Hrsg.: Rahlson, H[elmut] im Auftrag des Magistrats, Wiesbaden 1908.
Müller-Werth, Herbert: Geschichte und Kommunalpolitik der Stadt Wiesbaden unter besonderer Berücksichtigung der letzten 150 Jahre, Wiesbaden 1963.