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Wiesbaden in der Literatur

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Der erste bedeutende Schriftsteller, der sich mit Wiesbaden beschäftigte, war Johann Wolfgang von Goethe. In seinem Aufsatz »Kunst und Altertum am Rhein und Main« (1815) gibt er nach seinen Kuraufenthalten 1814/15 eine präzise Schilderung vom Ausbau Wiesbadens zur Haupt- und Kurstadt.

Wilhelm Heinrich von Riehl beschrieb in der Novelle »Abendfrieden« (1867) seine Kindheit in Biebrich. In »Das Theaterkind. Eine Memoiren-Novelle aus der Gegenwart« (1867) reflektierte er seine Erfahrungen in der Theaterkommission 1848/49. In »Der Märzminister« (1873) porträtierte er August Hergenhahn. In »Seines Vaters Sohn« (1879) wird Biebrich zum Schauplatz einer Schmugglergeschichte. Hans Grimm veröffentlichte einige Wiesbaden-Novellen und seine Erinnerungen »Leben in Erwartung. Meine Jugend« (1952). Alfons Paquet schrieb das Gedicht »So sagt ein Sohn der Stadt« (1906) und den Essay »Wiesbaden, ein Lebensbild« (1927). Wieland Herzfelde schilderte in »Immergrün. Merkwürdige Erlebnisse und Erfahrungen eines fröhlichen Waisenknaben« (1968) die verschiedenen Bürgerfamilien, in denen er 1905–14 untergebracht war. Karl Korn skizzierte in »Die Rheingauer Jahre« (1949) den Kontrast zwischen der Stadt der zugezogenen Beamten und dem Rheingau und schildert in »Lange Lehrzeit« (1975) seine Kindheit und Jugend in der Goebenstraße.

Ergänzend zu diesen Berichten aus der Zeit von Kaiserreich und Krieg gibt »Bühne und Welt. Erlebnisse und Betrachtungen eines Theaterleiters« (1948) von Carl Hagemann ein plastisches Bild vom Wiesbaden der 1920er-Jahre.

Die Nachkriegszeit 1947/48 verarbeitete Walter Kempowski (1929–2007) in »Uns geht’s ja noch gold« (1972). Spezifischer für Wiesbaden als diese autobiografischen Texte sind Romane und Erzählungen, die die Modekurstadt des 19. u. frühen 20. Jahrhunderts zum Schauplatz haben. Das literarische Niveau ist dabei unterschiedlich. Kolportageromane wie »Die Geheimnisse von Wiesbaden« von Heinrich von Hausen (1862) und »Die Verlobung von Wiesbaden« von August Niemann (1890) knüpfen an Eugène Sues’ (1804–1857) »Die Geheimnisse von Paris« an und leiten Spannungsmomente aus dem Glücksspiel ab.

Durch die Spielbank wird Wiesbaden auch zum Schauplatz eines Werkes der Weltliteratur, Fjodor M. Dostojewskis Kurzroman »Der Spieler« (1866). Ein anderer russischer Klassiker, Iwan Turgenjew (1818–1883), nennt in seiner Novelle »Frühlingsfluten« (1871) Wiesbaden ausdrücklich und spiegelt in dem Gegensatz zwischen kleinbürgerlichem Frankfurt und mondänem Wiesbaden die Charaktere der weiblichen Hauptfiguren. Der niederländische Schriftsteller Eduard Douwes Dekker (Multatuli) verarbeitete seine Wiesbadener Eindrücke in dem Roman »Millionen-Studien« (1872).

Ein Badeort ist ein geeigneter literarischer Schauplatz, um Begegnungen herbeizuführen oder Ehen anzubahnen. So begründete Wiesbaden-Episoden finden sich in den Romanen »Verfalltag« (1911) von Gerhard Oukama Knoop (1861–1913), »Jenseits« (1917) von John Galsworthy (1867–1933) sowie in der Novelle »Er will sie kennenlernen« (1887) von Hermann Sudermann (1857–1928).

Heinrich Mann nutzte Wiesbaden in seiner aus dem Nachlass veröffentlichten Novelle »Vor einer Photographie« als Kulisse. Erfahrungshintergrund war sein Kuraufenthalt in Wiesbaden 1892. Sein Bruder Thomas Mann kannte Wiesbaden und den Rheingau nicht, als er 1909–13 die ersten Kapitel seiner »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« (1922/1954) schrieb. Felix Krull, Sohn eines Eltviller Sektfabrikanten, hat in Wiesbaden sein desillusionierendes Theatererlebnis und muss sich hier der Musterung unterziehen. Um Rheingauer Sektfabrikanten geht es ebenfalls in dem Unterhaltungsroman »Friedel halb-süß« (1910) von Fedor von Zobeltitz (1857–1934). Auch in den Romanen von Liesbet Dill stehen Familien im Mittelpunkt, die dauerhaft hier leben: »Die Herweghs« (1905), »Suse« (1906), »Eine von zu vielen« (1907).

Die Kurstadtthematik wird nach 1918 aktuell uninteressant, aber bis heute in historischen Erzählwerken aufgegriffen. So variiert Friedrich Michael 1938 die Themen Glücksspiel und Heiratsmarkt in einem Kapitel seines 1865 spielenden Romans »Silvia und die Freier«(1941). Hans Dieter Schreeb verarbeitete in dem Roman »Hotel Petersburger Hof« (1996) das Leben seiner Großmutter. Schreebs Interesse gilt den kleinen Leuten, Dienstboten und der Sozialdemokratie. Karsten Eichner lässt in »Sherlock Holmes: Die Wiesbadener Fälle« (2009) den berühmten Londoner Detektiv in der Weltkurstadt ermitteln.

In der Gegenwartsliteratur wird auch das aktuelle Wiesbaden zum Thema. In Katja Behrens’ Roman »Die dreizehnte Fee« (1983) leben Großmutter, Mutter und Tochter in einer Dachwohnung in der Waldstraße. Eva Demski beschreibt in »Hotel Hölle, guten Tag« (1987) die Umwandlung einer Villa in ein Hotel und die Entdeckung, dass das Haus in der NS-Zeit als Folterkeller genutzt wurde. Hanns-Josef Ortheil machte in »Agenten« (1989) Wiesbaden zum prototypischen Ort für das Lifestyle-Treiben um 1985. Martin Walsers Romane »Die Verteidigung der Kindheit« (1991) und »Finks Krieg« (1996) vergegenwärtigen das Beamtenmilieu in der Landeshauptstadt.

Als Sitz des Bundeskriminalamtes war Wiesbaden für die Geschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) von Bedeutung. Diesen Bezug nahm Friedrich Christian Delius in dem Roman »Himmelfahrt eines Staatsfeindes« (1992) zum Anlass, ein fiktives Staatsbegräbnis für die 1977 in Stammheim gestorbenen Terroristen in Wiesbaden als satirischen Aufhänger zu nutzen für eine Auseinandersetzung mit der RAF. Aus Wiesbaden stammte der RAF-Terrorist Wolfgang Grams (*1953), der 1993 bei einem Schusswechsel mit der Polizei auf dem Bahnhof Bad Kleinen ums Leben kam. Seinen Fall nahm Christoph Hein in seinem Roman »In seiner frühen Kindheit ein Garten« (2005) zum Vorbild. Der 1955 in Wiesbaden geborene Autor Frank Witzel lässt seinen Roman »Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« (Deutscher Buchpreis 2015) in Wiesbaden spielen. Im Mittelpunkt steht eine Biebricher Jugendclique, die sich »Rote Armee Fraktion« nennt, noch bevor sich 1970 die Terroristengruppe diesen Namen gab.

Auch das in Mode gekommene Genre des »Regionalkrimis« hat in Wiesbaden spielende Romane hervorgebracht, die – wie meistens bei diesem Genre – hauptsächlich vor Ort Interesse finden.

Literatur

Jung, Wolfgang: Wiesbaden in der Literatur. In: Volkshochschule, Bildung für alle [S. 130–154].

Schwitzgebel, Helmut: Die erzählte Stadt. Wiesbaden im Spiegel der Romanliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Nassauische Annalen 85/1974 [S. 188 ff.].