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Stadtgeschichtsschreibung

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Die frühesten Darstellungen zu Wiesbaden beschäftigen sich mit den schon in der Antike genutzten Thermalquellen und dem Badebetrieb. Die erste kurze Beschreibung der Wiesbadener Bäder datiert von 1232. Seit Ende des 15. Jahrhunderts werden die Stadt und ihre Quellen immer häufiger zusammen mit anderen deutschen Badeorten in der balneologischen Literatur erwähnt. Das Interesse an den Naturwissenschaften und der Medizin im Späthumanismus animierte den nassau-idsteinischen Leibarzt Philipp Weber dazu, die erste Abhandlung vorzulegen, die sich ausschließlich den Wiesbadener Thermalquellen widmet. In seiner 1617 (bzw. 1632 auf Deutsch) erschienenen Monographie »Thermarum Wisbadensium Descriptio« beschrieb er dieses Naturphänomen und untersuchte erstmals wissenschaftlich deren medízinische Wirksamkeit. Sein Buch steht zugleich am Beginn der Stadtgeschichtsschreibung, denn Weber schildert dank guter Ortskenntnisse erstmals ausführlich die steinernen Zeugnisse aus Wiesbadens römischer und mittelalterlicher Vergangenheit. Obwohl in den folgenden Jahren weitere Abhandlungen über die Thermalquellen gedruckt wurden, knüpfte keiner der Verfasser an Webers historische Beschreibungen an.

Erst 1736 erschien wieder eine geschichtliche Abhandlung über die Stadt. Die »Memorabilia Urbis Wisbadenae oder Merkwürdigkeiten der Stadt Wiesbaden« des Theologen Gottfried Anton Schenck sind als Reisebeschreibung angelegt, ein Genre, das im 18. Jahrhundert bei der aufgeklärten bürgerlichen Leserschaft sehr beliebt war. Schencks Buch enthält die unterschiedlichsten Nachrichten, die wahl- und kommentarlos aneinandergereiht werden. Der Leser erfährt Unterhaltsames und Wissenswertes über die Landschaft, die römische Vergangenheit, die Stadtherrn, das Stadtwappen und die Stadtverfassung, er lernt den Charakter der Bevölkerung und ihre Glaubensvorstellungen kennen. Der Beschreibung markanter Gebäude folgen Nachrichten über Kriegsereignisse, Hinrichtungen und Naturereignisse. Schencks »Memorabilia« sind als verlässliche Primärquelle einzustufen, denn viele seiner Informationen stammten aus – heute teils verschollenen – Akten der Stadtverwaltung, die ihm wohl sein Vater, der Stadtoberschultheiß war, zur Verfügung stellte. Schencks Buch, 1758 unter dem Titel »Geschicht-Beschreibung« neu aufgelegt, blieb bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die einzige Darstellung dieser Art über Wiesbaden.

Eine Stadtgeschichte des Pfarrers und Rektors der Wiesbadener Lateinschule Georg Philipp Kraus (1713–92) blieb unvollendet. Alle anderen bis Anfang des 19. Jahrhunderts herausgebrachten Publikationen über Wiesbaden gehören zur traditionellen Badeliteratur, die sich lediglich mit den medizinischen Vorzügen der Thermalquellen beschäftigen.

Geschichtliche Untersuchungen auf der Basis historischer Quellen erschienen erst wieder seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der unter anderem als Sekretär des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung tätige Karl Rossel beschäftigte sich intensiv mit der römischen und besonders der mittelalterlichen Vergangenheit Wiesbadens. Da wichtiges Schriftgut im Stadtbrand von 1547 vernichtet wurde, versuchte er diesen Verlust durch Ausgrabungen zu kompensieren. Ihm verdanken wir wertvolle Hinweise zur Topografie der römischen und mittelalterlichen Stadt. Sie sind unersetzlich, da durch die vollständige bauliche Umgestaltung im 19. Jahrhundert diese Zeugnisse unwiederbringlich verloren sind. Ereignisse des 16.–18. Jahrhunderts fanden dagegen bei Rossel wie bei seinen Zeitgenossen kaum Interesse.

Von einem anderen Zeitgeist geprägt sind die Arbeiten Friedrich Ottos. 1877 erschien seine »Geschichte der Stadt Wiesbaden«, eine knappe Zusammenfassung der damals als gesichert geltenden Erkenntnisse zur Stadtgeschichte. Vom Erfolg des Büchleins ermutigt, wertete er in der Folgezeit erstmals systematisch die städtische Aktenüberlieferung des 16.–18. Jahrhunderts aus. Er publizierte einige auch heute noch nicht überholte Abhandlungen zu bis dahin nicht beachteten Themen, so zum Haushalts- und Steuerwesen. Ottos Stärke war nicht die umfassende Darstellung eines Themas, ihm lag eher die Untersuchung einzelner Aspekte. Den Anschluss an die damalige historische Forschung vollzog er mit seinen Editionen der ältesten erhaltenen Wiesbadener Quellen zum Gerichtswesen, des »Merkerbuches« und des »Gerichtsbuches«. In seinen Darlegungen gab Otto sorgfältig den Befund aus den Akten wieder. Da er jede Interpretation und ideologische Wertung der Quellen vermied, besitzen seine Darstellungen eine gewisse Zeitlosigkeit.

Eine umfangreiche Darstellung der Geschichte Wiesbadens legte Ferdinand Wilhelm Emil Roth vor. Roth, ein vielseitig interessierter Autodidakt, veröffentlichte bis zum Ausbruch einer schweren Paranoia, die 1904 seine Einweisung in eine Heilanstalt notwendig machte, fast 500 Beiträge zur politischen Geschichte, Kultur-, Kirchen- und Schulgeschichte Nassaus, ferner Quelleneditionen wie die 1879 erschienenen »Fontes Rerum Nassoicarum«. Zeitgenossen warfen Roth unkorrektes Arbeiten vor, denn er kompilierte wahllos Quellen, die er ohne Kommentar aneinanderreihte. Dass er die Quellen oft falsch interpretierte, zeigt sich deutlich in seiner Geschichte Wiesbadens. Zu vielen Ereignissen stellt Roth Behauptungen auf, für die sich in den Archivalien trotz intensiver Suche keine Belege finden ließen. Falsche Jahreszahlen und sinnentstellende Lesefehler machen eine Benutzung seiner Stadtgeschichte unmöglich.

Eine der vielseitigsten Persönlichkeiten in der Wiesbadener Historiografie ist Johann Christian Karl Spielmann, ab 1892 am neu gegründeten Wiesbadener Stadtarchiv tätig. Er veröffentlichte zahlreiche historische Romane, Dramen und Balladen und in Fachkreisen anerkannte pädagogische Abhandlungen. Seinen Ruhm begründete Spielmann mit seiner dreibändigen »Geschichte von Nassau«. Er verfasste zudem zahlreiche kleinere Artikel zur Geschichte der Stadt, die er seit 1900 in der von ihm begründeten Zeitschrift »Nassovia« oder im Wiesbadener Tagblatt veröffentlichte. Sein 1913 erschienener Spielmann-Atlas zur Weichbildentwicklung ist als einzigartige Vorstudie für einen modernen Städteatlas zu bewerten. Material für eine Sozialtopografie bietet er in der »Geschichte der Stadt Wiesbaden und ihrer Bewohner zu Beginn unseres Jahrhunderts«. Diese Arbeit ist umso wertvoller, denn Spielmann rekonstruiert darin die lokalen Verhältnisse in der Altstadt vor deren völliger baulicher Umgestaltung. Unvollendet blieb sein letztes Werk, eine umfassende »Geschichte der Stadt Wiesbaden von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts«. Kritisch anzumerken ist, dass Spielmann sich bei seinen Abhandlungen ausschließlich auf Akten des Stadtarchivs stützte und die Überlieferung des damals preußischen Staatsarchivs ausklammerte. Viele seiner Darstellungen bleiben daher lückenhaft. Abreißende Überlieferungsstränge schloss er durch Interpolation, was vielfach zu einer verzerrten Sicht der Dinge führt.

Zudem ignorierte Spielmann die Ergebnisse bereits erschienener Darstellungen, wie die Arbeiten von Theodor Schüler, in dem er einen Konkurrenten sah. Diese isolierte Arbeitsweise schmälert den Wert seiner Darstellung erheblich. Theodor Schüler (Pseudonym G. Schleusinger), Archivar am preußischen Staatsarchiv, verfasste zahlreiche Einzelbeiträge zur Nassauer und Wiesbadener Geschichte. Dabei gab er lediglich den Inhalt der Akten meist wörtlich wieder. Sein akribisches Vorgehen verleiht seinen Veröffentlichungen bleibenden Wert, können sie doch schon fast als Quelleneditionen gelten. Unfreiwillig tragen sie somit dazu bei, im Zweiten Weltkrieg entstandene Aktenverluste auszugleichen.

Eine Monografie zur Geschichte der Stadt erschien erst wieder 1925. Die von dem Gymnasiallehrer Ferdinand Heymach (1856–1930) verfasste »Geschichte der Stadt Wiesbaden« war eine Reminiszenz an die »große« Vergangenheit der Stadt, geschrieben in einer politisch wie wirtschaftlich schwierigen Zeit. Heymachs Buch ist eine kurze und sehr traditionelle Stadtgeschichte, in der er lediglich die Ergebnisse der vorliegenden Literatur zusammenfasst.

Als erste Monografie der Nachkriegszeit erschien 1963 die »Geschichte und Kommunalpolitik der Stadt Wiesbaden« des Journalisten und Leiters des Stadtarchivs (1951–65), Herbert Müller-Werth. Er spannt in seinem Buch den Bogen von der Antike bis in die 1960er-Jahre. Für die Nachkriegszeit legte er erstmals einen auf Aktenbasis verfassten Abriss der Kommunalpolitik der Stadt vor. Die Darstellung der älteren Geschichte stützt sich – abgesehen von dem Abschnitt über den Dreißigjährigen Krieg – auf die vorhandene Literatur.

Ein neuer Impuls für die Stadtgeschichtsschreibung ging in den 1970er-Jahren von der Schenkung eines Wiesbadener Apothekers aus. Aus Mitteln seines Nachlasses sollten Bearbeitung und Druck einer mehrbändigen wissenschaftlichen Stadtgeschichte finanziert werden. Neben dem Band über das römische Wiesbaden von Helmut Schoppa erschienen ein weiterer von Otto Renkhoff über Wiesbaden im Mittelalter und zwei Bände von Wolf-Heino Struck zur Geschichte der Stadt von 1806 bis zum Ende des Herzogtums Nassau. Die frühe Neuzeit bearbeitet die 1999 erschienene Dissertation von Martina Bleymehl-Eiler. Seit Beginn der 1990er-Jahre wurden mehrere Darstellungen zu Einzelaspekten der Stadtgeschichte in der Schriftenreihe des Stadtarchivs veröffentlicht.

Literatur

Bleymehl-Eiler, Martina: Stadt und frühneuzeitlicher Fürstenstaat: Wiesbadens Weg von der Amtsstadt zur Hauptstadt des Fürstentums Nassau-Usingen (Mitte des 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts), 2 Bde., ungedr. Diss., Mainz 1998.