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Nationalsozialismus in Wiesbaden

Artikel

Der Nationalsozialismus gewann in Wiesbaden an Einfluss, nachdem Theodor Habicht die 1926 gegründete Ortsgruppe der NSDAP neu organisiert hatte. Bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung im Jan. 1927 erzielte die Partei etwas mehr als 700 Stimmen, gewann aber kein Abgeordnetenmandat. Beim nächsten Urnengang, der aufgrund der Eingemeindungen bereits im Mai 1928 nötig wurde, stimmten über 6.000 Personen für die NSDAP, die mit vier Sitzen in das Stadtparlament einzog. Schon am 17.11.1929 erfolgte wieder eine Wahl, jetzt votierten über 13.000 Wähler für Partei, die nun mit neun Stadtverordneten im Rathaus vertreten war. Bei den Reichstagswahlen der Jahre 1930 und 1932 lagen die Resultate in Wiesbaden NSDAP deutlich über dem Reichsdurchschnitt.

Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise seit 1929, die jahrelange Besatzungszeit mit zwei separatistischen Putschversuchen, insbesondere aber das 1918 besiegelte Ende der Kurstadt im herkömmlichen Sinne und der damit einhergehende dramatische Einbruch der städtischen Einnahmen trugen maßgeblich zum Erfolg des Nationalsozialismus in Wiesbaden bei. Die Zahl der Arbeitslosen stieg von 8.000 im Jahr 1928 auf 20.000 im Februar 1933; von den rund 150.000 Wiesbadener Bürgern lebte jeder Dritte von Wohlfahrtsunterstützung. Die städtische Finanzlage war so ausweglos, dass 1930 und 1931 ein Zwangsetat festgesetzt wurde.

Nur folgerichtig war, dass das Ende der französisch-englischen Okkupation im Juni 1930 und der Besuch des Reichspräsidenten Hindenburg drei Wochen später einen nationalen Taumel der Begeisterung verursachten, der von den Nazis geschickt ausgenutzt wurde. Schon vorher war es allerdings zu blutigen Zusammenstößen zwischen den politischen Gegnern gekommen. Die gewalttätigen Ausschreitungen wurden von den NS-Presseorganen weiter angeheizt, so durch den seit Anfang Juli 1927 von Habicht herausgegebenen »Nassauer Beobachter« und dessen Nachfolger, die Tageszeitung »Rheinwacht« und das »Nassauer Volksblatt« (bis 1943). Der Verkauf der »Wiesbadener Zeitung« an das »Nassauer Volksblatt« 1936 trug erheblich dazu bei, dass andere politische Meinungen nicht mehr geäußert werden konnten und die Presselandschaft weiter vereinheitlicht wurde. Der Agitation der Bevölkerung dienten die Besuche von reichsweit führenden NS-Funktionären: 1926 und 1928 hielt sich Robert Ley in Wiesbaden auf. Fritz Sauckel, Julius Streicher, Heinrich Himmler und Joseph Goebbels waren zwischen 1928 und 1932 wiederholt in Wiesbaden anzutreffen. Vor allem im Vorfeld der fünf Urnengänge des Jahres 1932 kamen hochrangige NS-Vertreter nach Wiesbaden: Prinz August Wilhelm von Preußen trat im März im Paulinenschlösschen auf; am 03.04. hielt Goebbels mehrere Ansprachen in Wiesbaden.

Hitler machte im April auf einem seiner »Deutschlandflüge« Station in Wiesbaden. Am 28.07.1932 besuchte er die Stadt im Vorfeld der drei Tage später stattfindenden Reichstagswahlen erneut. Am 30.01.1933, dem Tag seiner Ernennung zum Reichskanzler, kam es zu Protesten der Arbeiterparteien und Gewerkschaften, am Abend des 31.01.1933 bei einem »Hitler-Huldigungsmarsch« mit Fackelzug zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern und zu mehreren Festnahmen. Der letzte Wahlkampf der NS-Gegner wurde massiv behindert, ihre Anhänger und Repräsentanten wurden drangsaliert und eingesperrt, ihre Einrichtungen durchsucht und oftmals demoliert. Trotzdem votierten bei der Reichstagswahl am 05.03.1933 noch 17,7 % der Wiesbadener Wähler für die SPD, 12 % für die KPD und knapp 10 % für das Zentrum. Auf die NSDAP entfielen 46,2 % (Reichsdurchschnitt 43,9 %). Am 08.03.1933 wurde über dem Rathaus die Hakenkreuzfahne gehisst. Bei der Kommunalwahl vier Tage später stimmten in Wiesbaden 48,5 % für die NSDAP. Oberbürgermeister Georg Krücke wurde festgenommen und durch Alfred Schulte ersetzt, dem am 01.04.1937 Erich Mix und später (kommissarisch) Felix Piékarski folgten. Am 31.03.1933 beschloss das Stadtparlament gegen die Stimmen der SPD sowie gegen die von Ferdinand Grün von der Zentrumspartei, Hitler zum Ehrenbürger der Stadt zu ernennen und den Schlossplatz in Adolf-Hitler-Platz umzubenennen.

Die Vertreter der KPD waren bereits unmittelbar nach der Kommunalwahl vom 12.03. aus der Stadtverordnetenversammlung ausgeschlossen worden; die Sozialdemokraten traf dieses Schicksal wenig später. Am 02.05.1933 stürmte und verwüstete die SA das Gewerkschaftshaus in der Wellritzstraße. In der Folgezeit sahen sich die bürgerlichen Parteien zur Selbstauflösung gedrängt, während gegen die SPD und deren Nebenorganisationen das Betätigungsverbot am 22.06. erging. Magistrat und Stadtverordnetenversammlung wurden aufgelöst, mit der Ernennung des Gauleiters Jakob Sprenger zum »Beauftragten der NSDAP« wurde stattdessen das Führerprinzip durchgesetzt. Die Wiesbadener Ratsherren, die am 27.09.1935 zum ersten Mal zusammentraten, hatten ausschließlich beratende Aufgaben. Politische Kundgebungen und Umzüge, z. B. zum 1. Mai oder zum Erntedanktag, Sonderaufmärsche von SA und SS prägten zunehmend den Alltag der Bevölkerung. Die Haushaltslage der Stadt konsolidierte sich allmählich; die Zahl der Erwerbslosen verringerte sich aufgrund des wieder zunehmenden Fremdenverkehrs und der Remilitarisierung.

Sichtbare Ergebnisse des Aufschwungs waren die Einweihung des Opelbades 1934 sowie die sogenannte braune Messe im Paulinenschlösschen, wo heimisches, »rein arisches« Handwerk präsentiert wurde (Oktober 1933). Auch im kulturellen Leben setzten die braunen Machthaber neue Akzente, und zwar insbesondere durch den örtlichen »Kampfbund für Deutsche Kultur«. Nach Paul Bekker übernahm Carl von Schirach, der Vater des späteren Reichsjugendführers, die Intendanz des Staatstheaters. Den kulturellen Bedürfnissen der Einwohner trugen Ereignisse wie der Festumzug zum fiktiv festgesetzten 2000-jährigen Jubiläum der Stadt (1934), die Durchführung von Gaukultur- und Musikwochen, allerlei Vorträge und Sommerfeste Rechnung. Die antijüdische und antisozialistische Schmähausstellung »Entartete Kunst« mit Kunstwerken der Dresdener Galerie wurde im März 1937 im Landesmuseum gezeigt. Daneben häuften sich die Militärparaden, Aufmärsche und Fackelzüge, mit denen alle Ereignisse von nationalem Rang begangen wurden.

Vom 20.–23.03.1935 stattete Hitler Wiesbaden erneut einen Besuch ab. Im Jahr darauf wurde mit der Aufhebung der entmilitarisierten Zone beidseits des Rheins am 07.03.1936 die Voraussetzung für Wiesbadens Remilitarisierung geschaffen. Im Oktober zogen der Regimentsstab und das III. Bataillon des Infanterieregiments 38, 14 Tage später auch das Generalkommando des XII. Armeekorps sowie ein Luftgaukommando in die Stadt ein. Der Ausbau der Stadt als Garnison wurde seit Oktober 1937 mit dem Fliegerhorst der Luftwaffe in Erbenheim, der Verlagerung weiterer militärischer Stabsstellen sowie durch die Errichtung neuer Kasernen stetig vorangetrieben.

Abgesehen von den militärischen Einrichtungen befanden sich in Wiesbaden eine von 30 Gauverwaltungen des Reichsarbeitsdienstes und seit 1939 ein »Lebensborn«-Heim sowie mehrere Dienststellen von NSDAP, SA und SS. Vor allem war Wiesbaden Standort des Höheren SS- und Polizeiführers Rhein-Westmark, der für den Wehrkreis XII und den geplanten Reichsgau Westmark einschließlich Lothringens sowie des 1940 ebenfalls okkupierten Luxemburgs zuständig war. Das Amt bekleidete von Ende 1943–45 der SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei Jürgen Stroop. In der Paulinenstraße befand sich die Außenstelle Wiesbaden der Gestapo Frankfurt/Main, die für die Deportation der Wiesbadener Juden verantwortlich war; der Gestapo-Mann Walter Bodewig hatte die Funktion eines »Judenreferenten« inne. Am 01.04.1933, dem Tag des reichsweiten Boykotts jüdischer Geschäfte, postierten sich SA-Männer vor jüdischen Geschäften, beschmierten deren Schaufensterscheiben mit antisemitischen Hetzparolen und versuchten, Kunden vom Einkauf abzuhalten. Der Seidenwarenhändler Salomon Rosenstrauch in der Wilhelmstraße 20 und der Milchhändler und SPD-Kassierer Max Kassel waren die ersten jüdischen Mordopfer in Wiesbaden (22.04.1933).

In der Folgezeit verschärften sich die Verfolgungsmaßnahmen gegen die Juden immer mehr. Am 10.11.1938 wurden die Synagogen überfallen, demoliert und zum Teil in Brand gesetzt, so auch die Synagoge am Michelsberg. Etwa 1.500 Juden wurden bis zum Kriegsende ermordet. Verfolgt wurden außerdem viele Funktionäre der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften sowie die in Wiesbaden lebenden Sinti und Roma, die »Zeugen Jehovas«, Homosexuelle, körperlich oder geistig behinderte Menschen und dauerhaft hilfsbedürftige Personen.

Trotz der ständigen Observationen, Drangsalierungen und vielfältiger Repressalien haben zahlreiche Männer und Frauen – Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, bürgerliche Nazi-Gegner – auch in Wiesbaden Widerstand geleistet. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war ein Großteil der Wiesbadener Männer zum Militärdienst einberufen worden. Die Folge war ein eklatanter Arbeitskräftemangel, den man durch den verstärkten Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen zu kompensieren versuchte. Mit dem Einmarsch der Amerikaner am 28.03.1945 endete der Nationalsozialismus in Wiesbaden. Nennenswerter Widerstand wurde den Besatzern nicht entgegengebracht, Bürgermeister Piékarski und andere NS-Funktionäre waren geflohen, die Wehrmacht, die SS- und die Polizeiverbände waren abgerückt.

Literatur

Bembenek, Lothar/Ulrich, Axel: Widerstand und Verfolgung in Wiesbaden 1933–1945. Eine Dokumentation. Hrsg.: Magistrat der Landeshauptstadt Wiesbaden – Stadtarchiv, Gießen 1990.

Hermann Otto Geißler, Wiesbaden im »Dritten Reich«. In: Nassauische Annalen 126/2015 [S. 339–372].

Zibell, Stephanie: Die Entstehung der NSDAP in Wiesbaden 1926–1933. Unveröffentlichte Magisterarbeit Universität Mainz/Institut für Politikwissenschaft 1992.

Müller-Werth, Herbert: Geschichte und Kommunalpolitik der Stadt Wiesbaden unter besonderer Berücksichtigung der letzten 150 Jahre, Wiesbaden 1963.