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Sinti und Roma

Artikel

Im hessischen Raum wurden Sinti und Roma im Jahre 1414 in Frankfurt am Main zum ersten Mal erwähnt und in Nassau 1501 als »Zigeuner«. In Wiesbaden findet man sie in Urkunden des 18. Jahrhunderts. Wie in allen absolutistischen Herrschaften, so wird auch in nassauischen Edikten dieser Zeit eine polizeiliche Verfolgung eingeleitet, die auf eine »Ausrottung der Zigeuner « hinauslaufen sollte. Von Assimilierungsversuchen durch Zwang, wie sie in einigen anderen deutschen Territorien umgesetzt wurde, ist hier nichts bekannt.

Erst im 19. Jahrhundert mit der Etablierung des Nationalstaats finden sich wieder Informationen über Sinti und Roma, die in den Verfügungen und Akten nun unterschieden werden nach deutschen und nichtdeutschen Sinti. Sie wurden als »Reisende« wahrgenommen, nichtdeutsche Roma des Landes verwiesen, während deutsche Sinti in den Nachbarkreis oder ins deutsche »Heimatland« abgeschoben wurden. Der preußische Ministerialerlass zur »Bekämpfung der Zigeunerplage« von 1906 wurde jährlich durch Razzien umgesetzt. Wie viele Sinti und Roma erfasst und abgeschoben wurden, lässt sich aus den erhaltenen Akten nachvollziehen, dagegen nicht, wie viele in Wiesbaden blieben. In Wiesbaden haben nach Aussagen von Zeitzeugen bis 1945 ausschließlich Sinti gelebt, so dass bis dahin immer von Sinti gesprochen werden muss.

In der Weimarer Republik konnte sich die Stadt bei der Behandlung der Sinti auf einen Erlass des Wirtschaftsministeriums beziehen und als Kurstadt sowohl Flüchtlinge wie auch Sinti grundsätzlich der Stadt verweisen. Entsprechend verfuhr auch die Verwaltung in den späten 1920er-Jahren, als z. B. Sinti versuchten, Grundstücke und Häuser zu erwerben. Mit dem Hinweis auf den besonderen Status der Stadt wurden Zuzüge verweigert. Der veränderten Rechtsprechung der Weimarer Republik war es letztlich jedoch auch geschuldet, dass Sinti bleiben konnten, so in Biebrich, am Stadtrand und auch in der Altstadt Wiesbadens.

Mit der NS-Machtübernahme 1933 verschlechterte sich auch hier die Lage der Sinti. Alle Maßnahmen, die im Reich beschlossen waren, wurden in der Regel unmittelbar vor Ort umgesetzt. Wiesbaden war z. B. eine der ersten Städte, in denen Rassenforscher aus Berlin tätig wurden, unter anderem unter Beteiligung eines Wiesbadener Arztes. Schon Ende Januar 1938 erschienen sie vor Ort und vermaßen die hier lebenden Sinti, fragten sie über ihre Verwandtschaftsverhältnisse aus und legten die Grundlage für die späteren Erfassungs- und Deportationsmaßnahmen. Die ersten im Geist des rassistischen Staates vollzogenen polizeilichen Maßnahmen in Wiesbaden waren die Verhaftungen von einzelnen Sinti im Juni 1938; einige männliche Wiesbadener Sinti wurden damals in das KZ Buchenwald verbracht. Dieser Aktion folgte die Festschreibung von ungefähr 100 Sinti, die ab Oktober 1939 Wiesbaden nicht mehr verlassen durften. Schon 1940 sollten die meisten dieser Menschen in das besetzte Polen deportiert werden wie etwa die Sinti aus Rheinhessen. Diese Deportation wurde aber kurzfristig aus unbekannten Gründen ausgesetzt. Im Gegensatz zu anderen Städten wie etwa Frankfurt durften oder mussten auch Sinti-Kinder weiterhin die Schule besuchen – bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz. Am 08.03.1943 wurden die meisten der in Wiesbaden lebenden Sinti verhaftet, in der Synagoge in der Friedrichstraße festgehalten und am nächsten Tag in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Die wenigen in Wiesbaden zurückgebliebenen Sinti, für die Ausnahmebestimmungen galten, wurden, sobald sie das 12. Lebensjahr erreicht hatten, sterilisiert. Von den nach Auschwitz Deportierten überlebten die meisten nicht.

Nach 1945 kehrten die wenigen Überlebenden nach Wiesbaden zurück, darunter der Musiker Sylvester Lampert; manchmal zogen Verwandte zu. Sie wurden von städtischen oder hessischen Behörden oft nicht als Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft anerkannt, denn sie galten wieder als »Zigeuner«, denen Ansprüche auf Wiedergutmachung oft bis in die 1960er-Jahre, zum Teil bis in die 1980er-Jahre verweigert wurden. Erst mit der politischen Anerkennung des Völkermords durch Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 und durch die Selbstorganisation der Sinti und Roma als Bürgerrechtsbewegung veränderte sich zumindest die öffentliche Einstellung. Nach 1945 zogen auch Roma nach Wiesbaden, so in den 1950er-Jahren aus Polen. Seit den 1970er-Jahren wanderten auch Roma aus Südosteuropa zu: als »Gastarbeiter« aus Jugoslawien, als Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien in den 1990er-Jahren oder als EU-Binnenwanderer nach Erweiterung der EU.

Als eine der ersten deutschen Städte überhaupt ließ Wiesbaden nach einem Beschluss der ➞ Stadtverordnetenversammlung 1992 in der Bahnhofstraße ein Mahnmal und eine Gedenktafel für die deportierten Sinti und Roma errichten. Im Wiesbadener Rathaus wurde 2004 auch die Ausstellung »Hornhaut auf der Seele – Die Geschichte zur Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen« zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert.

Wie viele Sinti und Roma heute in Wiesbaden leben, ist nicht bekannt. Entsprechende Daten dürfen nicht erhoben werden.

Literatur

Engbring-Romang, Udo: »Hornhaut auf der Seele«. Wiesbaden – Auschwitz. Zur Verfolgung der Sinti in Wiesbaden. Hrsg.: Strauß, Adam, Darmstadt 1997 (Schriften des Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Hessen 2).

Engbring-Romang, Udo: Ein unbekanntes Volk? Daten, Fakten und Zahlen. Zur Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma in Europa. Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, Internetveröffentlichung 2014.