Fastnacht
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Die Wiesbadener Fastnacht geht auf das Mittelalter zurück und wurde in Dorfgemeinschaften, in Zünften oder Gilden gefeiert. Nach der Reformation versuchten die protestantischen Landesherren das Treiben zu unterbinden. 1538 verbot ein Edikt das Fastnachtstreiben. Eine Verordnung untersagte 1656 das »Tantzen bey nächtlicher Weile, desgleichen das Herumwerfen und sonst alle unzüchtige Gebärde und Worte«. Auch aus dem 18. Jahrhundert sind Verbote der Fastnacht bekannt. Erst nach Gründung des Herzogtums Nassau 1806 wurden die Fastnachtsbräuche geduldet, die trotz aller Verbote und Einschränkungen nie ganz aufgegeben worden waren. Seit 1807 veranstaltete man im Badhaus Schützenhof und später im Kurhaus Maskenbälle.
Die Fastnacht blühte in Wiesbaden vor allem im Zusammenhang mit der Herausbildung des bürgerlichen Vereinslebens im 19. Jahrhunderts wieder auf. Das Jahr 1859 gilt als das Gründungsjahr des organisierten Wiesbadener Karnevals. Als die ersten reinen Fastnachtsgesellschaften gelten die »Allotria«, »Fidelio« und die »Carneval Gesellschaft Liederkranz«. Am 22.11.1862 schlossen sich der »Künstler-Club« und der »Gesellige Verein« zur Gesellschaft »Sprudel«, dem ältesten bis heute bestehenden Karnevalsverein in Wiesbaden, zusammen. Beamte, Künstler, Kaufleute und Professoren zählten zu seinen Mitgliedern. Lokalkolorit erhielten die Sitzungen durch mundartliche Vorträge, sogenannte Büttenreden, und den Auftritt des »Virreche«, eines typischen Vertreters des eingesessenen Bürgertums. Seit 1866 kooperierte der »Sprudel« mit dem Männergesangverein von 1841 (MGV), mit dem er sich später vereinigte. Tagungsort wurde 1874 das Hotel Viktoria.
Der »Sprudel« entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zum närrischen Treffpunkt des wohlhabenden Bürgertums, während die »Narrhalla« die Aufgabe hatte, »auch den wenig Bemittelten die Karnevalfreuden zugänglich zu machen«. Dies gilt auch von der »Merwel«, bei deren Sitzungen Mundartvorträge vorherrschten. Anfangs waren zu den großen »Fremdensitzungen« keine Damen zugelassen. Die Aktiven, die Mitglieder der Vereine, die Büttenredner, der Elferrat und der Sitzungspräsident waren alle männlichen Geschlechts, eine Tradition, die – zumindest, was die Besetzung der Sitzungskomitees und das Präsidium betrifft – bis heute nachwirkt. 1873 erschien erstmals die »Wiesbadener Brühbrunnen-, Kreppel-, Kaffeemiehl- und Brödcher-Zeitung« des Schriftstellers und Redakteurs Johann Christian Glücklich, die erst 1914 ihr Erscheinen einstellte. Die Kreppel- oder Fastnachtszeitungen, die kommunale Ereignisse aufs Korn nahmen, waren in den folgenden Jahren aus der Wiesbadener Fastnacht nicht mehr wegzudenken. Die bekannteste war die Wäsch-Bitt von Franz Bossong. Der »Sprudel« veranstaltete zu seinem 25-jährigen Jubiläum 1887 den ersten Fastnachtsumzug durch Wiesbaden mit 55 Zugnummern und 800 Teilnehmern. In diesem Jahr trat erstmals die »Prinzengarde«, die erste närrische Garde Wiesbadens, gebildet aus den Reihen des Fechtclubs, in Erscheinung. Die heute noch bestehende, um 1900 gegründete Prinzengarde war eine Schöpfung des Athletenvereins. Im gleichen Jahr gab es das erste karnevalistische »Prinzenpaar«, wobei die »Prinzessin« von einem Mann dargestellt wurde, was bis in die 1930er-Jahre üblich blieb.
Der »Sprudel« behauptete sich bis zum Ersten Weltkrieg als bedeutendster Karnevalsverein Wiesbadens mit besten Verbindungen zu den gesellschaftlich führenden Kreisen der wilhelminischen Zeit. Präsident war bis 1890 Ferdinand Hey’l, danach bis 1910 der Unternehmer Christian Kalkbrenner. 1893 hatte er 600 Mitglieder. 1895 feierte der Verein sein 3 mal 11., das heißt, sein 33-jähriges Jubiläum. Für das große Fastnachtsfestspiel stellte in diesem Jahr Intendant Georg von Hülsen mit ausdrücklicher Erlaubnis von Kaiser Wilhelm II. das neue große Theater zur Verfügung. Gesuchte, erfolgreiche Humoristen dieser Zeit waren Franz Bossong, der lange Zeit das »Virreche« bei den Sprudelsitzungen gab, und der Beamte Josef Biez (1871–1937), der bei den großen Vereinen »Sprudel«, »Narrhalla« und »Merwel«, aber auch auf vielen Volksbühnen außerhalb Wiesbadens auftrat. Der Schlossermeister Karl Leicher (1872–1949), ein echter »Wiesbadener Bub«, der über eine prächtige Tenorstimme verfügte, wirkte als Gesangshumorist auch in Düsseldorf und vielen anderen deutschen Städten. Seine Domäne war die »Merwel«. Weitere Vortragskanonen waren der Lustspieldichter Curt Kraatz, Joseph Hupfeld, Wilhelm Jacoby aus Mainz und Julius Rosenthal. Die karnevalistischen Vorträge, die »Büttenreden«, reflektierten den Aufstieg Wiesbadens um die Jahrhundertwende und die daraus resultierenden Kosten, die vermehrten Steuerleistungen und den Verlust des vertrauten Stadtbildes. Aber auch überregionale Themen, Vorgänge im Reichstag, der Burenkrieg und Hofaffären wurden angesprochen. 1908 gründete sich die »Wiesbadener Karnevalsgesellschaft 1908«, die bis 1958 das Fastnachtsgeschehen in Wiesbaden maßgeblich mitbestimmte.
In der Besatzungszeit nach dem Ersten Weltkrieg erlegte das durch die Franzosen erlassene Versammlungsverbot den Narrenvereinen Zurückhaltung auf; speziell Maskenbälle waren untersagt. Die Karnevalisten betätigten sich in unverdächtigen Organisationen wie dem Turn- und Sportverein Wiesbaden mit Sitz in der Hellmundstraße (heute Eintrachthaus). Als Veranstalter trat der »Verband mittelrheinischer Privat-, Unterhaltungs- und Mandolinengesellschaften e.V.« auf. Nach dem Ende der französischen Besatzung und der Übergabe der Stadt an die Engländer Ende 1925 lebten die karnevalistischen Aktivitäten wieder auf. Die Kurverwaltung veranstaltete einen »Sprudelabend« im Kurhaus, wo man »Prinz Karneval« einer großen Mottenkiste entsteigen ließ. Am 16.01.1926 gründete sich im Gewerkschaftshaus das »Buchdrucker-Komitee«, aus dem 1927 der Gesangverein Gutenberg und 1930 der bis heute existierende Karnevalsverein »Die Spinner« hervorging.
Nach 1933 war närrische Kritik unerwünscht und die sogenannte Büttenfreiheit aufgehoben. Der Karneval am Rhein stand unter strenger Kontrolle. Besonders hart getroffen wurden »Die Spinner«, die als Buchdrucker Mitglieder der Gewerkschaft waren. Der Verein wurde im Mai 1933 aufgelöst und das Inventar beschlagnahmt. Der »Sprudel« als die mehr oder weniger »offizielle« Verkörperung des Wiesbadener Karnevals wurde von Persönlichkeiten der Stadt und Partei gestützt. Unter Präsident Jacoby fanden 1934 mehrere sehr gut besuchte Veranstaltungen statt. Nach Kriegsende waren der »Carneval Verein Bierstadt« und die »Kolping-Fastnacht« die ersten, die 1947 wieder aktiv wurden. Die »Spinner«, der »Carnevalverein Schierstein« und die »Jocus Garde« aus Kostheim sowie die »Große Wiesbadener Karneval Gesellschaft 08« folgten. Das Prinzenpaar der Kampagne 1948/1949 waren Paul I., der damals bekannte Theaterschauspieler Paul Breitkopf, und Anneliese I., Anneliese Niemann, von Beruf Stewardess. Rund 200 Kinder und Jugendliche folgten 1949 einem Aufruf, am Umzug teilzunehmen, und bildeten im folgenden Jahr die »Wiesbadener Ratschengarde«. Der in jenen Tagen gebaute »Schockelgaul« fährt bis heute im Fastnachtszug mit. Am 28.02.1949 zog dann unter dem Motto »Es ist geglückt – Wiesbaden verrückt« der erste Rosenmontagszug vor 250.000 Zuschauern durch die Stadt. 1950 gründete sich die Dacho (Dachorganisation Wiesbadener Karneval 1950 e.V.) in der Wartburg. 1957 schlossen sich mehrere Vereine, die »Große Narrenzunft Wiesbadener Sprudel«, die »Große Wiesbadener Carnevalgesellschaft 08«, der »Wiesbadener Carneval Club« und der »Rheinische Eulenspiegel« unter dem traditionsreichen Namen »Sprudel« zusammen. Der »Sprudel« besteht bis heute; er ist u. a. bekannt für seine Sozialsitzungen, die er in Altenheimen und Reha-Kliniken durchführt. 100 Jahre organisierter Karneval wurden in der Kampagne 1958/59 gefeiert.
Als die Stadtverwaltung der Dacho 1982 die Gelder für den Fastnachtsumzug strich, der mittlerweile sonntags stattfand, um nicht in Konkurrenz zum Rosenmontagszug in Mainz zu treten, und die Dacho aus Protest den Zug ersatzlos ausfallen ließ, konnte ein spontan gegründetes »Notkomitee Wiesbadener Narren« einspringen und den Wiesbadenern den »größten Spaß seit der Erfindung von Wiesbaden« unter dem Kürzel »LALÜ« (Locker, Alternativ, Lustvoll, Übermütig) bieten. Am Fastnachtsamstag 1982 zogen ab 13.18 Uhr vom Elsässer Platz einige Tausend alternative Narren durch die Innenstadt und fanden immerhin rund 80.000 Zuschauer. Die Motive des alternativen Fastnachtszugs beschäftigten sich überwiegend mit den damaligen politischen Streitthemen Startbahn West, Bildungsnotstand, Atomkraft, etc. Wolfgang Herber, seit 1997 ehrenamtlicher Stadtrat, fuhr als alternativer Bürgermeister mit und brüstete sich bei der Abschlusskundgebung auf dem Schlossplatz mit den Erfolgen seiner Sparpolitik auf Kosten des kleinen Mannes. Das ZDF übertrug die Schlossplatzkundgebung live. Jährlich findet am Fastnachtssamstag der Kinderumzug und am Fastnachtssonntag der große traditionelle Fastnachtsumzug statt.
Literatur
Forßbohm, Brigitte (Hrsg.): Die Wäsch-Bitt von Franz Bossong. Heiteres und Satirisches aus dem alten Wiesbaden 1897–1900, Wiesbaden 1998.
Fritsch, Franz: Lachendes, lockendes lebensfrohes Wiesbaden. Eine heitere Chronik über die letzten 100 Jahre der Kurstadt und ihres Karnevals, Wiesbaden 1959.