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Jazz in Wiesbaden

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Nachdem es bereits 1937 zu einem losen Zusammenschluss von Jazzfreunden in Wiesbaden gekommen war, wurde 1939 der Hot-Club-Wiesbaden gegründet. Präsident war Henry Guntrum. Ende der 1930er-/Anfang der 1940er-Jahre haben niederländische Bands Jazz in Wiesbaden gespielt, bis 1940/41 konnte man noch Jazz-Schallplatten kaufen. Im Park-Café spielten italienische Bands Swing. Nach 1945 sind die »Graeme Bell’s Australian Jazz Band«, die Orchester Woody Herman, Lionel Hampton, Stan Kenton und Louis Armstrong in Wiesbaden aufgetreten. Rex Stewart (1907–1967) spielte im Kurhaus. Im Eagle Club traten deutsche und amerikanische Bands auf. 1946 spielten dort die »Swing Stars« mit Paul Kuhn und Max Fröhlich. 1954 entstand der Jazzkreis Wiesbaden, dessen jazzbegeisterte Mitglieder sich noch heute einmal monatlich zu Plattenabenden zusammenfinden. Aus seinem Gründungszirkel bildete sich schon 1953 die »New Orleans Band Bucktown Six«. Erste Schallplattenaufnahmen wurden 1958 mit dem amerikanischen Sänger Rev. James Willard Parks gemacht. Beim 4. Deutschen Amateur-Jazzfestival 1958 in Düsseldorf belegte sie den ersten Platz. Auftritte im Radio und im SWF-Fernsehen folgten. Später widmete sich das Dietrich-Geldern-Swingtett dem Combo-Swing amerikanischer Vorbilder wie Benny Goodman (1909–1986), Artie Shaw (1910–2004) oder Johnny Hodges (1906–1970). Es trat auch zusammen mit der Sängerin Joske Kruijssen auf. Dietrich Geldern wirkte auch als Lehrer für Klarinette und Saxofon. Paolo Fornara und Reinhard Diegel gehörten zu seinen Schülern. Weitere Wiesbadener Bands aus dieser Zeit waren die »Papa Tietz Jazzmen« (1957 gegründet) um den Biebricher Pianisten Fritz Tietz. In späteren Jahren folgte die »Hot Fountain Six« mit Klaus Kaestner, Torsten Plagenz, Albert Hemes, Wilfried Jüterbock, Edu Jung und Bernhard Gauer. Den eher moderneren Formen des Jazz widmeten sich das »Brauhaus Quintett« sowie das »Twobone Quintett«, das im Stile von J. J. Johnson (1924–2001) und Kay Winding (1922–1983) spielte. Modernen Dixieland im Stil von Wild Bill Davison (1906–1989) spielten seit 1961 die »Jam Buckets« mit Richard Streim und Ecki Schumacher. Sie waren eine der typischen Amateurbands mit regionaler Ausstrahlung. Mit ihnen spielte zeitweise auch Paolo Fornara, der 1958 mit Klarinette im Konservatorium begann, sich danach autodidaktisch weiterbildete, für die Showband »Blue Birds« Saxofon lernte, 1962 beim Jazzfestival im Kurhaus den Preis als bester Klarinetten-Solist erhielt, ab den 1970er-Jahren mit den Frankfurtern Jo Flinner, Gerhard Bitter und Achim Cremer auftrat und Mitglied von »Tagore« wurde, mit denen er 1976 beim Jazzfestival in San Sebastián spielte. Weitere musikalische Stationen waren die »Ralf Kunzmann Big Band« und die Begleitband von Hans-Dieter Hüsch (1925–2005) im Programm »Hagenbuch und die Musik«. Der Jazzkenner Hans Herder schrieb in den 1960er-Jahren für die Wiederveröffentlichungsreihen »Jazz Museum« und »Pioneers of Jazz« auf Coral sowie »The Golden Swing Years« auf Brunswick und »Swing Classics« auf Polydor die Covertexte (Liner Notes).

Im September 1962 übernahmen Albert und Uschi Butz das Jazz House in der Nerostraße. Zur Eröffnung spielten die »Bucktown Six«. Aber auch Blues war angesagt. Bereits am 13.10.1962 gastierten die Musiker des ersten American Folk Blues Festivals mit der Sängerin Helen Humes (1913–1981), in späteren Jahren kamen Howlin’ Wolf (1910–1976), John Lee Hooker (1920–2001) und die »Five Blind Boys of Alabama« dazu. Mitglieder des Orchesters Duke Ellington um Jimmy Hamilton (1917–1994), das auf dem Flugplatz Erbenheim gastiert hatte, traten auf, das »Elvin Jones Quintet« wurde engagiert, auch Albert Mangelsdorff (1928–2005) mit Attila Zoller (1927–1998), Günter Lenz und Ralf Hübner, außerdem gab es Kunstausstellungen, Jazzfilme mit Joachim Kreck und bis 1968 jährlich einen Schallplattensammler- Kongress. Dabei spielten 1966 Albert Nicholas (1900–1973) und 1967 Sam Wooding (1895–1985). Ab 1979 firmierte das Haus als »Grammophone«, bevor 1982 seine Zeit zu Ende ging. Es war 20 Jahre lang das Zentrum des Jazz in Wiesbaden und Treffpunkt der musikbegeisterten Jugend. Außerdem war es die Basis vieler Wiesbadener Musiker: noch als Amateur spielte der Gitarrist Volker Kriegel hier Swing, der Pianist Öcki von Brevern war oft im Sälchen anzutreffen und der Bluesspieler Tom Woll hat zeitweilig sogar im Haus gewohnt. Er kam aus Saarbrücken und ist studierter Musiker (Klavier, Gitarre). Beeinflusst von Lightnin’ Hopkins (1912–1982), John Lee Hooker, Django Reinhardt (1910–1953), Wes Montgomery (1923–1968), Kenny Burrell und ZZ Top begann er mit 15 Jahren, Blues zu spielen. In dieser Zeit kam es auch zur Gründung der Wiesbadener Juristenband. 1984–2005 gab es den Jazzbandball im Kurhaus, mitgegründet, geplant und moderiert von Bill Ramsey, der auch gelegentlich als Sänger auftrat.

Entsprechend dem internationalen Trend entwickelten sich auch in WI moderne Spielformen bis hin zum Free Jazz. Die »Free Jazz Group Wiesbaden«, ein Quartett mit den Wiesbadenern Dieter Scherf und Wolfgang König sowie Michael Sell aus Frankfurt und Wolfgang Schlick aus Eschborn bestand 1969–72. Sie trat 1970 auf dem 12. Deutschen Jazzfestival Frankfurt auf und brachte als Eigenproduktionen die LPs »Frictions« und »Frictions Now« heraus, die heute Sammlerraritäten sind. Das international mit vier LPs erfolgreiche Jazz-Rock-Quartett »Virgo« wurde 1972 von Wiesbadener Musikern um den Pianisten/Keyboarder Henryk Darlowski gegründet. Ihm gehörten nacheinander die Saxofonisten Hans Fischer, Bobby Stern und Wilson de Oliveira an. Ihren Durchbruch hatte »Virgo« 1974 auf dem Jazzfestival in Frankfurt. Die Formation hat sich 1982 aufgelöst. Ebenfalls mit Jazz Rock trat 1977 der Pianist Matthias Frey auf der LP Horizonte der Gruppe PSI hervor. Er war bester Solist auf dem Jazzfestival San Sebastián, trat bei den Berliner Jazztagen, dem Jazzfestival Frankfurt und dem New Jazz Festival Hamburg auf, wurde für den SWF-Jazzpreis nominiert, ging für das Goethe-Institut auf Tourneen nach Ostafrika und Nahost, in den 1990er-Jahren nach Südostasien, England und Schottland. Er erhielt 2008 den Nassauer Kulturpreis.

Eine Gruppe junger Musiker – Eberhard Emmel, Ulrich Philipp, Wolfgang Schliemann, Gert Zimanowski u. a. – mit dem Spielideal der freien Improvisation schloss sich 1979 auf Anregung von Alfred Tilp zur KOOPERATIVE NEW JAZZ Wiesbaden e.V. zusammen. Sie betrieb 1983–87 den Jazzclub ARTist im Haus der Heimat in der Friedrichstraße, in dem neben zahlreichen Konzerten auch Lesungen, Performances, Vorführungen von Jazzfilmen und Kunstausstellungen stattfanden. Heute hat sie ihre Spielbasis im Kunsthaus am Schulberg. Aus ihrem Kreis gingen der Pianist Uwe Oberg und der Kontrabassist und Tenorsaxofonist Gert Zimanowski hervor. Der Autodidakt Gert Zimanowski kam durch Albert Mangelsdorff ins Deutsch-Französische Jazzensemble, dem er drei Jahre angehörte. Ab 2006 arbeitete er mit Kindern mit der eigens entwickelten Talktone-Methode (eine Verbindung zwischen sprachlichem und musikalischem Rhythmus, insbesondere geeignet, Kinder unterschiedlicher sprachlicher Herkunft an die Musik heranzuführen). 2011 erhielt er für ein Projekt mit Schülern der Goetheschule den Integrationspreis. Uwe Oberg ist seit den 1980er-Jahren im Bereich Jazz, freie Improvisation und Neue Musik, von Thelonious Monk bis Anthony Braxton, aktiv und sehr vielseitig. Er wirkt in experimentellen Gruppen sowie in anderen Kunstsparten mit: Tanz, Theater, Stummfilmbegleitung und Ausstellungen. Mit eigenem Trio und mit vielen etablierten deutschen und ausländischen Musikerinnen und Musikern, darunter Heinz Sauer und Evan Parker, gab er Konzerte und machte Aufnahmen. Seit 2005 organisiert er mit Raimund Knösche das Jazzfestival Just Music in Wiesbaden. Im Jahr 2007 erhielt er den Hessischen Jazzpreis.

Ein musikpädagogisches Projekt der besonderen Art ist die »Big Band der Leibnizschule«, die 1977 von Reinhard Diegel – Musik- und Deutschlehrer an diesem Gymnasium – gegründet und bis 2004 geleitet wurde. In den 1990er-Jahren hatte die Band Auftritte in den Wiesbadener Partnerstädten Ljubljana, San Sebastián und Wrocław (Breslau). 2002 gewann sie den ersten Preis beim Hessischen Landeswettbewerb »Jugend jazzt«.

Seit 1993 veranstaltet Peter Schilbach mit seinem Büro Jazzmap Tourneen US-amerikanischer und europäischer Musiker, die er nach Möglichkeit auch über Wiesbaden führt. So fanden hier bisher mehr als 200 Konzerte statt mit international renommierten Musikern und Musikerinnen wie Abraham Burton, Larry Coryell, Al Foster, Joanne Brackeen und vielen anderen. Die Veranstaltungen von Peter Schilbach finden im Restaurant »Camera« Unter den Eichen statt.

Seit der Schließung des Jazz House in der Nerostraße konnte sich kein fester Jazzklub mehr etablieren. Die Konzerte finden an häufig wechselnden Orten statt. Dennoch haben die Aktivitäten eher zugenommen. Es gibt seit 1987 den »Humanoise Congress« der KOOPERATIVE NEW JAZZ Wiesbaden e.V., seit 1988 die Konzertreihe »Jazz im Hof« des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie seit 2000 das jährliche Festival »Just Music« und neuerdings die Musikreihe »ton ab« im Kulturforum. 2009 begann im Kulturzentrum Schlachthof die Reihe »Dynamic Jazz« und »Jazz in der Wartburg«, beide mit zeitgenössischen Musizierformen. Im Walhalla Studio gibt es von Zeit zu Zeit Jazz und Blues. Paolo Fornara ist einmal im Monat Gastgeber einer Jam Session im thalhaus. Bei den Internationalen Maifestspielen traten u. a. der »Dave Pike Set« mit Volker Kriegel und die »Dizzy Gillespie All Stars« mit Benny Golson und Slide Hampton auf. Kurhaus und Kurpark sind Spielorte für Jazz im Rahmen des Rheingau Musik Festivals. Oscar Peterson (1925–2007), Wayne Shorter und das »Pasadena Roof Orchestra« haben hier gespielt. Im Studio der Wiesbadener Musik- & Kunstschule gibt es gelegentlich Jazzkonzerte. Aktiv auf der Szene sind mit Dixieland bis Swing das Andreas-Hertel-Quintett mit Neobop, das »Fun Jazz Quartett« von Paolo Fornara, das »Latin-Bop-Quartett« mit Lutz Rathsfeld, die von Reinhard Diegel begründete »Kleine Big Band Five Generations« und gelegentlich die Wiesbadener Juristenband. Ein festes Haus für den Jazz in Wiesbaden wünschen sich nicht nur die Organisatoren des Wiesbadener Jazzfestivals »Just Music«.

Jazz-House in der Nerostraße 24, 1974 wiesbaden.de/ Stadtarchiv Wiesbaden, F000-15143, Urheber: Hans A. Scheffler
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