Sprungmarken

Evangelische Kirche und Nationalsozialismus (»Kirchenkampf«)

Artikel

Der Nationalsozialismus hatte als eines seiner obersten Ziele, »eine wahre Volksgemeinschaft« zu schaffen. Dazu sollten alle selbstständigen Institutionen und Vereinigungen entweder gleichgeschaltet oder aufgelöst werden. Hatte man die katholische Kirche durch den Abschluss eines Konkordats im Juli 1933 »ruhig gestellt«, so setzte man bei der evangelischen Kirche auf Gleichschaltung.

Für die Verfolgung dieses Ziels waren in Berlin zwei Wiesbadener Juristen verantwortlich: der Staatssekretär im Preußischen Kultusministerium, Wilhelm Stuckart und der bisherige Wiesbadener Landgerichtsrat August Jäger. Beide waren anfangs erfolgreich. Mit persönlicher Unterstützung Hitlers gelang eine Machtübernahme in den meisten der evangelischen Landeskirchen. Bei einer reichsweiten »Kirchenwahl« am 22.07.1933 wurden die Kirchenvorstände und Synoden mehrheitlich mit Nationalsozialisten und »Deutschen Christen«, den kirchlichen Parteigängern der NSDAP, besetzt.

Da sich der NS-Staat damals ausgesprochen kirchenfreundlich verhielt, gab es kaum Widerstand. Das wandelte sich erst, als die Synoden aus dem Reichsgesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 07.04.1933 den »Arierparagraphen« beschlossen, nach dem nur »rein arische« Pfarrer – ohne einen jüdischen Eltern- oder Großelternteil – in der Kirche amtieren durften. Auf dem »Braunen Landeskirchentag« der Evangelischen Landeskirche in Nassau am 12.09.1933 in Wiesbaden widersprach nur ein Pfarrer, Karl Amborn (1890–1952) aus Braubach, diesem Beschluss, aber in Berlin hatten am Tag zuvor bereits 60 Pfarrer die Verpflichtung des »Pfarrernotbundes« unterzeichnet. Darin versprachen sie, die Kirche gegen Einfluss von außen zu schützen und für die durch die Synodalbeschlüsse betroffenen Amtsbrüder einzustehen.

Der Pfarrernotbund entwickelte sich in den folgenden Jahren zum Rückgrat der kirchlichen Opposition; sein Leiter war Pfarrer Martin Niemöller. Innerhalb weniger Wochen schlossen sich ihm mehrere tausend Pfarrer an, auch einige Pfarrer in Wiesbaden. Demgegenüber hatten sich bis zum Jahresende 1933 die Vereinigungen der Deutschen Christen in Nassau vollständig aufgelöst. Dazu hatte auch beigetragen, dass der Landeskirchentag unter dem Vorsitz von August Jäger den nassauischen Landesbischof August Kortheuer auf unwürdige Weise aus seinem Amt gedrängt hatte.

Der wichtigste Beschluss des Landeskirchentages war die Vereinigung der Evangelischen Landeskirche von Nassau mit den beiden Landeskirchen von Hessen-Darmstadt und Frankfurt am Main. Hessen-Kassel sagte im letzten Augenblick die Vereinigung ab. In der neuen Landeskirche, die den Namen Nassau-Hessen erhielt, beanspruchte Hessen-Darmstadt das leitende Amt. So wurde auf der ersten gemeinsamen Synode der hessische Prälat Wilhelm Diehl (1871–1944) vorgeschlagen, aber auch der 36-jährige Pfarrer von der Wiesbadener Marktkirche Ernst Ludwig Dietrich. Dieser Name löste heftige Proteste in allen drei Landeskirchen aus. Dennoch wurde Dietrich am 08.02.1934 vom Reichsbischof Ludwig Müller zum Landesbischof von Nassau-Hessen ernannt. Er übte sein Amt mit Verboten und Bestrafungen aus und wurde in seiner Amtsführung von Berlin und von der regionalen Parteiführung kräftig unterstützt.

Im ersten Halbjahr 1934 war die kirchliche Opposition erheblich gewachsen. Seit der Bekenntnissynode in Barmen (29.–31.05.1934) waren überall Bekenntnisgemeinschaften entstanden, auch in Nassau-Hessen, in denen nicht nur die opponierenden Pfarrer zusammengeschlossen waren, sondern auch Gemeindeglieder und ganze Gemeinden. Die Opposition erklärte schließlich auf der Bekenntnissynode in Dahlem im Oktober 1934 offiziell ihren Ungehorsam gegenüber dem unrechtmäßigen Kirchenregiment und forderte die Gemeinden auf, sich stattdessen der Bekenntnissynode zu unterstellen. Auch in Nassau-Hessen erklärte eine große Zahl von Pfarrern und Gemeinden ihre Ablehnung der Reichs- und der Landeskirchenregierung. Es wurde ein Landesbruderrat gegründet, der als regionale Notkirchenleitung für die Bekenntnisgemeinden wirkte. Die Kirchenpolitik der NS-Regierung war gescheitert.

Hitler ließ den groß angekündigten Empfang der Landesbischöfe und die feierliche Vereidigung des Reichsbischofs ausfallen; August Jäger, der Hauptakteur der Gleichschaltung, wurde von allen seinen Ämtern entbunden. Der Versuch, die Landeskirchen in eine einheitliche Reichskirche zu zwingen, hatte bei einigen, wie auch in Nassau Hessen, zwar auf Behördenebene funktioniert, aber die evangelische Kirche war auseinandergebrochen. Wie sehr die Reichsregierung getroffen war, zeigte die am 07.12.1934 gehaltene »Wiesbadener Rede« des Reichsinnenministers Wilhelm Frick (1877–1946), in der er behauptete, in der kirchlichen Opposition sammelten sich »staatsfeindliche und landesverräterische Elemente«, und die Auseinandersetzungen als »Zank der Pastoren« verächtlich machte.

Neben anderen legte Stuckart seine Konzeption für eine künftige Kirchenpolitik vor. Hitler ernannte ihn zum Staatssekretär im Reichsministerium des Inneren. Nach Stuckarts Vorschlag sollte die Reichsregierung auf eine Durchführung des Führerprinzips in der Kirche verzichten, die kirchliche Verwaltung aber stärker kontrolliert werden. Es wurde ein neues Ministerium für die kirchlichen Angelegenheiten unter Leitung von Hanns Kerrl (1887–1941) geschaffen. Dieser richtete einen Reichskirchenausschuss mit mehr oder weniger neutralen Persönlichkeiten sowie in den »zerstörten Kirchen«, zu denen auch Nassau-Hessen zählte, Landeskirchenausschüsse ein. Landesbischof Dietrich wurde zu einem Verzicht auf seine Vollmachten genötigt; nur den Titel behielt er. Der Landeskirchenausschuss versuchte, manche Strafmaßnahmen aus der Zeit Dietrichs zu mildern. Diese zweite Phase der Auseinandersetzungen brachte nur eine äußerliche Befriedung. Die Bekennende Kirche erkannte die Anordnungen der vom Staat eingesetzten Kirchenausschüsse nicht an.

Die dritte Phase der Auseinandersetzungen begann in Nassau-Hessen Mitte 1937 durch eine ministerielle Anordnung: Der bisherige Leiter des Landeskirchenamtes Präsident Paul Kipper wurde mit der alleinigen Leitung der Landeskirche beauftragt. Der frühere Wiesbadener Landgerichtsrat Kipper war 1934 Leiter der Kirchenverwaltung in Darmstadt geworden und hatte sich dem NS-System angepasst.

Da in dieser Zeit aber der Nationalsozialismus den Kirchen und dem Christentum gegenüber als feindlich erkennbar wurde, dauerten die Konflikte an. Selbst in der Kriegszeit ließen die staatlichen Repressionen gegen die Kirche keineswegs nach. Pfarrer, darunter auch Geistliche aus Nassau, wurden in die Konzentrationslager verbracht. Der Religionsunterricht wurde den Kirchen verwehrt; den Kirchengemeinden wurden die Kindergärten entzogen; Taufen durften nicht mehr in den Kliniken durchgeführt werden, Pfarrer durften Kranke in den Kliniken nur noch besuchen, wenn sie darum gebeten wurden. Die radikalste Maßnahme war jedoch 1939 die Aussonderung der »rassejüdischen Christen« nicht nur aus den Gemeinden, sondern aus der evangelischen Kirche überhaupt. Präsident Kipper hatte den entsprechenden Aufruf mit unterzeichnet. Der Landesbruderrat protestierte heftig – ohne Erfolg.

Seit Januar 1939 war ein Zusammenschluss der verschiedenen kirchlichen Gruppierungen erfolgt im »Einigungswerk Nassau-Hessen«. Die Leiter waren Friedrich Müller (1879–1947) aus Darmstadt als Vertreter der »Mitte«, einer Gruppierung der Unentschiedenen, die sich neu gebildet hatte, Pfarrer Karl Veidt für die Bekennende Kirche und Landesbischof Dietrich als Vertreter der »Landeskirchlichen«, wie sich die Gruppe unter seiner Führung nannte. Dietrich hatte sich öffentlich von seinem früheren Weg distanziert und alle Maßnahmen, durch die Amtsbrüder schwer getroffen worden waren, bedauert. Doch gelang es auch dem Einigungswerk nicht, den NS-Kurs der Kirchenbehörde in eine andere Richtung zu lenken.

Aus dem Ringen um die Frage, welchen Einfluss der Staat auf das Leben der Kirchen haben sollte, hatte sich eine Art Widerstand gegen die staatliche Politik ergeben, was viele von den hier Engagierten ursprünglich nicht gewollt hatten. Das führte dazu, dass die westlichen Alliierten nach dem Zusammenbruch die Bekennende Kirche als Widerstandsgruppe anerkannten, obwohl sie dies eigentlich nicht hatte sein wollen.

Literatur

Wahrheit und Bekenntnis. Kirchenkampf in Wiesbaden 1933–1945. Hrsg.: Geißler, Hermann Otto/Grunwald, Klaus-Dieter/Rink, Sigurd/Töpelmann, Roger, Wiesbaden 2014 (Schriften des Stadtarchivs Wiesbaden 12).