Goethe-Gesellschaft
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Anlässlich von Goethes 200. Geburtstag konstituierte sich 1949 im Taunushotel die Goethe-Gesellschaft Die Vereinigung sollte dem Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit gerecht werden. Dem Humanismusideal verpflichtet, lag die Bestimmung der Goethe-Gesellschaft darin, Leitideen zu definieren und geistige Werte zu kultivieren mit dem Ziel, gegen die Veräußerlichung und den sich verbreitenden Materialismus zu opponieren.
Man warb für den lebendigen Umgang mit Goethe als einem herausragenden Europäer und Weltbürger und war bestrebt, durch Vorträge und Rezitationen die Beziehungen zu und die Kenntnisse über Goethe und sein Werk zu fördern. Bedeutende Rednerinnen und Redner wurden zu großen Themen eingeladen. Bei solcher Vielstimmigkeit potenzierte sich die Anziehungskraft der Goethe-Gesellschaft auch durch die Intention, einen lebendigen Dialog mit den Interessierten anzustoßen. Bei der Konzeption des Programms wurde darauf geachtet, möglichst Themen und Autoritäten zu wählen, die anderswo noch nicht berücksichtigt worden waren. Nach den Vorträgen gab es Gelegenheit zur Geselligkeit. In diesen Zusammenhang gehört auch die Initiative »Mitglieder sprechen zu Mitgliedern«, von den Vorsitzenden Walter Felix Mueller (bis 1965) und Albert Schaefer (bis 1974) praktiziert und fortgeführt mit der Übernahme des Vorsitzes durch Alexander Hildebrand (1974–2006).
Die Anfangsphase der Goethe-Gesellschaft verzeichnet in ihrer Programmatik auch eine gewisse staatsbürgerliche Unterrichtung. Dafür gab es in Goethes Leben hinreichend Anhaltspunkte. In der Folge traten Lebens- und Kulturfragen allgemeiner Art stärker hervor: »Der Mensch und die Wahrheit« (Josef Pieper), »Die geistige Krise der Gegenwart und die Philosophie« (Helmut Plessner) oder »Goethes anschauende Urteilskraft« (Hugo Kükelhaus). Besondere Resonanz erfuhren Vortragsreihen unter Leitgedanken, etwa »Goethes Religion im Rahmen des Gottesgedankens im Abendland« oder »Goethe und seine großen Zeitgenossen« im Anschluss an Goethes Begriff von der Weltliteratur.
Neben den Rezitationen aus Goethes Werken durch renommierte Schauspielerinnen und Schauspieler (Marianne Hoppe, Will Quadflieg) und dem Zyklus »Goethe im Lied« erfreuten sich die Dichterlesungen respektabler Beliebtheit, zunächst als Matineen im Kleinen Haus des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, die letzten Jahrzehnte in der Villa Clementine, wo die Goethe-Gesellschaft zur Vorläuferin des heutigen Literaturhauses wurde. Damit wurde an die Tradition der »Literarischen Gesellschaft« aus den 1920er-Jahren angeknüpft, als man dort Thomas Mann, Stefan Zweig, Kurt Tucholsky, Hermann Graf Keyserling, Alfons Paquet oder Arnold Zweig erleben konnte. Jetzt hießen die Autoren u. a. Edzard Schaper, Erich Nossack, Bernard von Brentano, Günter Eich, Alfred Andersch, Marie Luise Kaschnitz, Ingeborg Bachmann, Siegfried Lenz und Wolfgang Hildesheimer.
In den 1970er-Jahren öffnete man sich noch stärker der aktuellen Forschung. Eingang fand die Exilforschung, die auch besonders die jüngeren Mitglieder anzog, gleiches galt für Themen wie »Tendenzen der Gegenwartsliteratur« oder »Was ist ein moderner Roman?«. Einzelne Werke Goethes rückten in den Fokus der Interpretation, bisweilen auch ein einzelnes Gedicht. Die Presse registrierte die ansteigende Zahl von Frauen bei den Referenten, und im Feuilleton wurden die Dichterin Ilse Aichinger oder die Proust-Übersetzerin Eva Rechel-Mertens explizit gewürdigt.
Ein Hauptgewicht lag weiterhin auf der Programmatik mit übergreifender Zyklusstruktur. So wurde Goethes Werk unter dem Aspekt verschiedener Disziplinen interpretiert, so in Vorträgen über »Goethe und die Musik«, »Goethe und die Mathematik«, »Goethe und die Medizin« usw. Auch setzte man sich mit dem Goethebild in anderen europäischen Ländern auseinander, von wo die besten Kenner, wiederholt einst Verfemte und Exilierte, anreisten. Zu erwähnen sind auch die kultur- und kunsthistorischen Exkursionen zu Orten Goethes sowie anderer Dichter und Künstler, z. B. Besuche in Goethes original bewahrten Kabinetten im Brentano-Haus in Oestrich-Winkel. Immer wieder im Zentrum: Goethe als unerschöpfliches Thema.
Literatur
Hildebrand, Alexander: Goethe in Bad und Gebirg. Ein Zyklus. Festgabe zum 50 jährigen Bestehen der Wiesbadener Goethe-Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999.
Hildebrand, Alexander: Die Wiesbadener Goethe-Gesellschaft. Eine Dokumentation, Wiesbaden 2015.