Naturschutzgebiet Rettbergsaue
Anfang der 1970er-Jahre des 20. Jahrhunderts geriet die Rettbergsaue, eine Rheininsel gegenüber Biebrich in der Strommitte gelegen, in die Schlagzeilen. Die Insel sollte zu einem Naherholungsgebiet mit Ferienwohnungen, einem Reitstall, Sportstätten, einem Seminarhaus, einem Café und Rundwanderwegen ausgebaut und über eine Seilbahn an den Ortsteil Biebrich angeschlossen werden. Mainz wollte nicht abseits stehen und zusammen mit Wiesbaden wurde über einen Zweckverband zum Ausbau der Insel nachgedacht. Zuvor waren die Pläne von zwei jungen Diplomingenieuren in einer Ausstellung in der Wiesbadener Brunnenkolonnade der Öffentlichkeit vorgestellt worden, und in der Lokalpresse machte das Schlagwort vom "Ungeschliffenen Diamanten" die Runde.
Etwa zur gleichen Zeit wurden Pläne bekannt, dass Wiesbaden auf der Insel ein 300 bzw. 600 MW-Kraftwerk errichten wolle. Diese Ankündigung rief das Hessische Forstamt Chausseehaus, den Regierungspräsidenten in Darmstadt und die Avifaunistische Arbeitsgemeinschaft Hessen, aus der ein Jahr später die Hessische Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz (HGON) hervorging, auf den Plan. Die Erstellung eines ornithologischen Gutachtens und eine botanische Bestandsaufnahme wurden in Auftrag gegeben. Nachdem die beiden Gutachten Ende September 1972 vorlagen, erkannten die damit befassten Behörden die Schutzwürdigkeit des Gebietes und leiteten entsprechende Maßnahmen ein. Es dauerte sechs Jahre, bis alle Instanzen durchlaufen waren und das Naturschutzgebiet Rettbergsaue von Wiesbaden mit einer Fläche von 52,6321 Hektar ausgewiesen werden konnte, zum Schutz des seltenen Hartholzauenwaldes und als Brut- und Rastplatz für bedrohte Vogelarten.
Geologisch gesehen ist die Insel eine nacheiszeitliche Flussaufschüttung des Rheins aus Lehm und Sand. Obgleich keine ausgesprochenen Besonderheiten der Flora im Gebiet angetroffen werden, sind die dort ansässigen Bestände der so genannten Hartholzaue mit Esche (Fraxinus excelsior), Ulme (Ulmus campestris und Ulmus laevis), Bergahorn (Acer pseudoplatanus), Spitzahorn (Acer platanoides) und Stieleiche (Quercus robur) in ihrer Unberührtheit von unschätzbarem Wert und mit Ausnahme des Kühkopfes und des Biedensandes entlang des Flusses kaum noch vorhanden. Der Urwaldcharakter wird durch den Reichtum an Lianen, vor allem der Waldrebe (Clematis vitalba), noch verstärkt. 1972 wurden auf Anhieb 51 Brutvogelarten ermittelt, darunter allein vier Greifvogelarten mit Wespenbussard (Pernis apivorus), Schwarzmilan (Milvus migrans), Mäusebussard (Buteo buteo) und Turmfalke (Falco tinnunculus). Auffallend war die Brutdichte der Nachtigall (Luscinia megarhynchos) mit 20 bis 30 Paaren. Mit der Verordnung vom 10. Dezember 1984 wurde die Fläche auf 67,78 Hektar ausgedehnt. Ein Gebiet gegenüber Biebrich und ein weiteres, östlich und westlich der Schiersteiner Brücke, wurden zuvor als offene Wiesenflächen freigehalten. Die Wiesen westlich des geschlossenen Auwaldes stellen minderwertige Quecken-Distel-Gesellschaften dar. Dort fand in den letzten Jahren eine natürliche Sukzession mit Hartholzbäumen wie Esche, Ahorn und wenigen Stieleichen statt, und man entschloss sich, diese vorher offenen Flächen aufzugeben. In Ergänzung der natürlichen Sukzession wurden im Rahmen der ICE-Ausgleichsflächen 7 ha Wald durch Neuanpflanzungen von Eschen, resistenten Ulmen, Schwarzpappeln (Populus nigra), aber auch Gehölzen wie Hasel (Corylus avellana), Weißdorn (Crataegus laevigata), Pfaffenhütchen (Euonymus europaeus), Liguster (Ligustrum vulgare), Schneeball (Viburnum opulus) und Heckenkirsche (Lonicera xylosteum) geschaffen.
Die Bedeutung dieser Naturoase in unserem hoch industrialisierten, dicht besiedelten Gebiet hat im Laufe der Jahre noch zugenommen. 140 Vogelarten wurden bisher beobachtet, darunter allein 86 als Brutvögel registriert. Unter Einbeziehung der Vorwarnliste werden 68 Arten (Brutvögel und Durchzügler) in der 9. Fassung der Roten Liste der Vögel Hessens vom Juli 2006 als besonders gefährdet aufgeführt. Das Südufer der Rettbergsaue. Das Südufer der Rettbergsaue.
Doch auch auf der Rettbergsaue wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Das Gebiet ist, obgleich naturbelassen, einem ständigen Wechsel unterworfen. Die alten, fast in Monokultur stehenden Ulmen sind alle dem Ulmensplintkäfer (Scolytus scolytus) zum Opfer gefallen, und die auf dem ehemaligen Spülfeld gepflanzten Pappelhybriden werden wohl nach und nach vom Pappelbock (Saperda carcharias), einem Käfer, niedergemacht. Das ist durchaus im Sinne der Behörden und erspart aufwändige Fällarbeiten. Der Aufwuchs eines neuen Hartholzauenwaldes ist durch Selbstaussaat bereits gesichert. In den letzten Jahren ist durch Witterungseinflüsse eine Anzahl Horst-tragender alter Bäume umgestürzt. Das hat zu einem Rückgang der Brutpaare von Graureihern und Schwarzmilanen geführt, die auf den schlanken Hybridpappeln keine sicheren Horste anlegen können. Die Reiher finden mitunter eine Etage tiefer auf Kleinbäumen und Gehölzen einen Platz, wie das vor einigen Jahren im Trinkwasserschutzgebiet in Schierstein beobachtet werden konnte. Durch das Zuwachsen der offenen Flächen und die Aufgabe der Landwirtschaft ist das Rebhuhn (Perdix perdix) als Brutvogel verschwunden und der Feldschwirl (Locustella naevia) in deutlichem Rückgang begriffen. Wahrscheinlich müssen doch einige Flächen in Pflege genommen und offen gehalten werden, um auch Waldrandbewohnern wie Grasmücken, Piepern und Tauben Lebensräume zu erhalten. Das Naturschutzgebiet Rettbergsaue von Wiesbaden ist somit das älteste und wichtigste Naturschutzgebiet in unserer Stadt.
Autor: Dieter Zingel