Naurod
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Zahlreiche Hügelgräber aus der Hallstattzeit um 800 bis 400 v. Chr. zeugen von Siedlungsspuren bereits in vorchristlicher Zeit. Naurod selbst dürfte erst im Zuge der hochmittelalterlichen Siedlungsausbau- und Rodungsperiode seit etwa 1000 gegründet worden sein. Auf eine Entstehungszeit um die Mitte des 13. Jahrhunderts deutet ein Weistum von 1353, in dem den Naurodern ihre Rechte an der Waldnutzung bestätigt werden, so, wie sie sie seit 100 Jahren ausgeübt hätten. Erstmals erwähnt wird der Ort in einer Urkunde von 1346. Darin überträgt Graf Gerlach zu Nassau seine Herrschaft auf seine Söhne Adolf und Johann, behält sich aber gewisse Einkünfte vor.
1457 wurde Naurod mit anderen Dörfern und dem halben Schloss Sonnenberg als Bestandteil der Mitgift der Marie zu Nassau an Graf Ludwig von Isenburg/Büdingen verpfändet. Naurod war wie andere Gemeinden in der Umgebung Wiesbadens zu Frondiensten für das Schlosshofgut verpflichtet. 1360 werden ein vom Landesherrn eingesetzter Schultheiß und mehrere Schöffen genannt. Das Wiesbadener Schöffengericht war Obergericht für Naurod und für die Kriminalgerichtsbarkeit zuständig. Von 1671 stammt das älteste Nauroder Gerichtssiegel, das den heiligen Laurentius mit seinem Marterwerkzeug, dem Rost, sowie einer Bibel zeigt.
Nach einem Inventar von 1817 verwahrte der Schultheiß das Gerichtssiegel und wichtige Unterlagen in einer Gerichtskiste und einem Gerichtsschrank. Sein Büro war mit landesherrlichen Edikten, Verordnungsblättern und dem »Nassauischen Intelligenzblatt« ausgestattet. Wichtige Funktionen in der Gemeinde hatten auch der Förster, der Feldhüter, die Vieh- und Schweinehirten, die in den 1817 genannten Hirtenhäusern wohnten, und der Schäfer inne. Der alte Schultheiß wurde, wie im gesamten Wiesbadener Landkreis, im Zuge der Revolution 1848 abgeschafft und durch einen von der Einwohnerschaft zu wählenden Gemeinderat mit einem Bürgermeister an der Spitze abgelöst. Naurod wurde vielfach in kriegerische Verwicklungen hineingezogen: 1417 wurde das Dorf von den Eppsteinern eingeäschert. Sehr zu leiden hatte Naurod unter dem Dreißigjährigen Krieg mit seinen Plünderungen und Pestumzügen. 1625 starben innerhalb von drei Monaten 45 Personen an der Seuche. Sieben Jahre lang lag das Dorf komplett wüst. 1641 kehrten vier Familien zurück, 1684 lebten wieder 18 Familien mit 88 Personen in Naurod.
Außer seinen Hofraiten und der kleinen Kirche hatte Naurod seit 1567 ein weiteres, öffentliches Gebäude aufzuweisen: In diesem Jahr wurde das Wiesbadener Gemeindehaus in der sogenannten engeren Stadt dem Grafen Balthasar zu Nassau-Idstein überlassen, der es kurzerhand abbrechen und in Naurod aufschlagen ließ. 1817 gab es in Naurod eine Schule, die kurz vor dem Abriss stand, ein hölzernes Backhaus, zwei Hirten- und ein Spritzenhäuschen sowie mehrere Brunnen.
Eine ältere, dem heiligen Laurentius geweihte Kirche, deren Aussehen eine Zeichnung von 1580 wiedergibt, lag im Bereich des heutigen Friedhofs. Kloster Bleidenstadt, das 1445 den Geistlichen Adolf Guttuncker von Wiesbaden zum Pfarrer in Naurod einsetzte, übte das Patronatsrecht über die Kirche aus. 11 Jahre später wurde ein neuer Pfarrer, Rudolf Schuderici, ebenfalls aus Wiesbaden, nach Naurod berufen. Zwischen 1542 und 1550 dürfte Naurod evangelisch und im Zuge der Reformation Filiale von Kloppenheim geworden sein. Im Dreißigjährigen Krieg wurde die Nauroder Kirche sehr in Mitleidenschaft gezogen, die Renovierungsarbeiten zogen sich jahrelang hin. 1650 ließ man in Mainz eine neue Glocke gießen und löste den Abendmahlskelch, der während des Kriegs versetzt worden war, wieder ein. 1670 wurden eine zweite Glocke und eine Uhr angeschafft. Drei wichtige Ausstattungsstücke der alten Kirche, die Holzplastiken der Heiligen Laurentius und Sebastian sowie einer Madonna aus der Zeit um 1510, haben sich in der Sammlung Nassauischer Altertümer erhalten. 1716 kam es zu einer Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse: In Naurod wurde eine eigene Pfarrei errichtet, der Auringen als Filiale zugeordnet wurde. 1717 begann man mit dem Bau eines Pfarrhauses. 1727 erhielt die Gemeinde die Erlaubnis zum Neubau einer Kirche. Der nassauische Architekt Johann Jakob Bager der Ältere erstellte die Baupläne für einen achteckigen barocken Zentralbau, der 1730 eingeweiht wurde und 1732 eine Orgel erhielt; die alte Kirche wurde abgerissen.
Ein eigener Schulmeister lässt sich in Naurod schon für 1619 nachweisen, zwei Jahre später auch eine Schule, von der allerdings nicht bekannt ist, wo sie sich befand. Nach den Kriegswirren konnte 1668 wieder ein eigener Lehrer angestellt werden, 1680–84 erfolgte ein Schulneubau, in den nun auch die Auringer ihre Kinder schickten. Als Naurod 1716 selbstständige Pfarrei wurde, übertrug man dem Pfarrer auch das Lehreramt. Dies blieb bis 1774 so, auch wenn der jeweilige Pfarrer zeitweise auf eigene Kosten einen Schuldiener annahm. 36 Kinder besuchten zu dieser Zeit den Unterricht. Um 1730 erwarb die Gemeinde in der Nachbarschaft der neuen Kirche ein Gebäude, in dem ein Klassenzimmer eingerichtet wurde. Bis 1746 diente es allerdings auch als Schmiede. 1820–22 wurde eine neue Schule in der Obergasse Nr. 11 errichtet. Auch dieses Gebäude erwies sich schon bald als zu klein und wurde 1856/57 nach den Plänen des nassauischen Baumeisters Philipp Hoffmann durch einen Neubau ersetzt, das spätere Rathaus. Darin befanden sich zwei Klassenräume, die Lehrerwohnung, Gemeindebackhaus und -gefängnis. Hier wurde 1863 der Heimat- und Mundartdichter Rudolf Dietz geboren. Nach ihm ist die 1958 als vierklassige Volksschule erbaute, seit 1962 zur Mittelpunktschule erweiterte Schule benannt. Seit 1973 fungiert sie als Grundschule, in der benachbarten Kellerskopfschule werden Haupt- und Realschüler unterrichtet.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gab es in Naurod 18 steuerpflichtige Haushalte. Bis 1576 erhöhte sich deren Zahl auf 24. Am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges hatte Naurod etwa 125 Bewohnerinnen und Bewohner. Fast alle Familien besaßen Zugvieh, 120 Mastschweine wurden in den Märkerwald getrieben, all dies Zeichen eines gewissen Wohlstandes. Das Ackerland in Naurod war zwar nicht sehr ertragreich, dafür sind der Holzreichtum der Gemeinde und ihr großer Waldbesitz bis heute charakteristisch. Naurod gehörte zum Wiesbadener Königshof; der Gemeinde stand von jeher die Nutzung der Waldmark des Taunus nördlich von Wiesbaden zu
1746, 100 Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, hatte die Bevölkerung wieder den Vorkriegsstand erreicht: Erneut zählte man 23 Familien mit je einem Gespann, dazu 13 Handfroner und einen Beisassen, die sich zeitweise als Tagelöhner verdingen mussten. Diese insgesamt 180 Personen besaßen an Immobilien 38 Häuser, 25 Scheunen, 18 Ställe. Naurod lebte weniger vom Ackerbau als von der Viehhaltung. Das größte Vermögen im Ort hatte der Schultheiß aufzuweisen. In der Gemarkung von Naurod wurden seit 1771 Versuche zur Gewinnung oberflächennaher Rohstoffe der Steine und Erden wie z. B. Schwerspat, aber auch Basalt, Sericitgneis, Quarz und Ton, unternommen. Kurzfristig wurden auch Kupfer- und Manganerze gefördert. Von überörtlicher Bedeutung war eine Gerberei mit Lohmühle und Oberlederfabrik, an die noch heute die Gerberstraße erinnert; sie existierte von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg.
Um 1900 wurde in Naurod auf Initiative des Nassauischen Heilstättenvereins für Lungenkranke e.V. eine Lungenheilstätte errichtet; sie firmierte zeitweise als Taunus-Sanatorium bzw. Fachklinik Naurod für Erkrankungen der Atmungsorgane. Seit 1984 steht an ihrer Stelle das Wilhelm-Kempf-Haus, eine Tagungsstätte des Bistums Limburg. 1855 hatte sich die Zahl der Einwohner auf 557 verdreifacht, die Zahl der Häuser verdoppelte sich auf 80. Ein deutliches Zeichen für den bald darauf einsetzenden Strukturwandel ist die Abnahme des Viehbestandes und der Betriebsgröße der einzelnen Höfe bis zum Ende des Jahrhunderts. Gleichzeitig fand seit den 1880er-Jahren für den stetig wachsenden Bedarf der Kurstadt Wiesbaden eine Intensivierung der Milcherzeugung statt, 1900 gab es drei Milchhändler in Naurod. Die Zahl größerer bäuerlicher Betriebe verringerte sich drastisch, während die der Nebenerwerbslandwirtschaften mit Betriebsflächen von weniger als zwei Hektar zunahm. 1927 waren von 373 Steuerpflichtigen nur noch 61 selbstständig. Damit war Naurod zur Arbeiterwohnsitzgemeinde geworden. Von den Arbeitnehmern waren 148 in Wiesbaden – viele davon als Bauhandwerker –, 12 in Mainz, 38 in Höchst beschäftigt.
Der Erste Weltkrieg forderte 33 Todesopfer; in der Grippe-Epidemie von 1918 kamen 19 Menschen ums Leben. Im Zuge staatlicher geförderter Notstandsmaßnahmen entstand nach dem Krieg am Erbsenacker ein Sportplatz. 1923–29 wurden sechs Vereine gegründet, von denen einige als »marxistisch« 1933 wieder aufgelöst wurden. 1925 wurde in Naurod eine zentrale Wasserversorgung eingeführt. Schon seit 1910 gab es elektrischen Strom. Seit 1929 war Naurod durch eine Buslinie an die städtischen Verkehrsbetriebe angebunden. Bei der Kommunalwahl von 1933 erhielt die NSDAP 26,9 % der Stimmen. Bei den Reichstagswahlen war sie mit 39 % stärkste Partei. Der SPD-Bürgermeister Wilhelm Schleunes wurde abgesetzt. Von Bombenangriffen blieb Naurod weitgehend verschont.
Aus dem Zweiten Weltkrieg kehrten 76 Einwohner nicht zurück. Nach Kriegsende nahm die Gemeinde 400 Flüchtlinge auf, um den alten Ortskern entstanden neue Wohngebiete. Die Siedlung Erbsenacker wurde gemeinsam mit der Höchst AG erschlossen. Die Einwohnerzahl stieg von 1.200 im Jahr 1945 auf 4.300 im Jahr 1992. Wichtige Neubauten waren die neue Trauerhalle 1952, das als Gemeindesaal dienende »Forum« 1975 und die 1973 eingeweihte Kellerskopfhalle, eine Sporthalle, die auch für besondere kulturelle Veranstaltungen genutzt werden kann.
Naurod zeichnet sich durch ein reges Vereinsleben aus; 18 Vereine haben sich zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen. 1977 wurde Naurod nach Wiesbaden eingemeindet.
Literatur
Kopp, 650 Jahre Naurod; Magistrat vor Ort: Materialien zur Stadtentwicklung. Naurod, Stadtplanungsamt (Hrsg.), Wiesbaden 1992.
Renkhoff, Otto: Wiesbaden im Mittelalter, Wiesbaden 1980 (Geschichte der Stadt Wiesbaden 2).
650 Jahre Naurod: 1346–1996. Nauroder Chronik bis zur Gegenwart. Hrsg.: Nickel, Wolfgang, Wiesbaden-Erbenheim 1996.