Kanalisation
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Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war die Abwasserbeseitigung eine private Aufgabe. Von den Privatgrundstücken gelangten die Abwässer mittels einfacher Gräben, Rinnen und Rohre zur Entsorgung in die Bachläufe; Fäkalien wurden in Gruben gesammelt, von den Bauern oder sogenannten Düngerausfuhrgesellschaften abgeholt und als Dünger auf den Feldern ausgebracht. Um 1800 existierten bereits ca. 1.500 m gemauerte Kanäle, die jedoch nur in den wenigsten Fällen überwölbt waren und regelmäßig gereinigt werden mussten. Um 1820 wurde ein Zwillingskanal mit Bruchsteinen unter dem Gehweg im Bereich Warmer Damm gebaut. Mit dem Anwachsen der Bevölkerung wuchs gleichwohl die Belästigung durch üble Gerüche; ein zusätzliches Problem war die die Geruchsentwicklung begünstigende Wärme des Thermalwassers. 1863 kam es zu einer Petition englischer Kurgäste, die eine Überwölbung des Salzbachs erreichen wollten, der als Hauptsammler der Abwässer besonders stark verunreinigt war. Zu diesem Zeitpunkt waren allerdings bereits große Anstrengungen zu einer Verbesserung der Kanalisation unternommen worden. Seit 1859 wurden die offenen Bäche überwölbt; Stadtbaumeister Alexander Fach schuf bis Ende der 1860er-Jahre 37 km an neuen Kanälen, um 1868 wurden die ersten Betonrohre verlegt. Es fehlte allerdings an einer einheitlichen modernen Bauweise, an Spül- und Ventilationsvorrichtungen. Außerdem hatten die Kanäle zu wenig Gefälle. Der Salzbach, der sein Wasser unterhalb Biebrichs in den Rhein entleerte, geriet zunehmend ins Blickfeld. Bereits 1815 und 1839 war es zu Typhusausbrüchen gekommen. 1881–84 kam es sogar jährlich zu Typhusepidemien – mit erheblichen negativen Folgen für das Kurwesen. Die letzte Typhusepidemie, die 59 Menschenleben forderte, gab schließlich den Anstoß für eine grundlegende Neukonzeption der Wiesbadener Kanalisation.
1885 beschloss der Gemeinderat, diese unhygienischen Zustände zu verbessern, Kanäle und Klärwerke zu bauen sowie Wasserklosetts einzuführen. Der von der Stadt beauftragte Ingenieur Joseph Brix konzipierte, auch aufgrund der topografischen Lage Wiesbadens, ein Einrohrsystem, auch Mischwassersystem genannt, das häusliches Schmutzwasser aus Haushalten und Gewerbebetrieben sowie das Regenwasser in denselben Kanälen zusammen zur Reinigung den Klärwerken zuführte. Die Vorteile gegenüber den heute favorisierten Trennsystemen waren zum einen die Kostenersparnisse durch den Wegfall eines zweiten Kanalsystems und zum anderen die zwangsläufige Reinigung der Kanäle bei Starkregen. Der gravierende Nachteil jedoch bei der Überstauung des Kanalnetzes durch Starkregen ist die Einleitung von Schmutzteilchen aus dem Abwasser in den nächsten Vorfluter (Bach) und dann zum Rhein. Die Kanalisation war eines der größten Bauprojekte in der Stadt; bis 1908 kostete die Erbauung von 122 km Kanälen sowie einer Kläranlage an der Spelzmühle (1885) rund 110 Millionen RM. 1900–03 kam es zum Bau der Zulaufkanäle, zum größten Teil als Eiprofile, mit Klinkermauerwerk zum Salzbachkanal. Der Salzbach selbst wurde in einen unterirdischen Eisenrohrkanal verlegt, der das geklärte Abwasser bis in den Rhein, und zwar 100 m entfernt vom Ufer ins Flussbett leitete.
Die Kanalisation Wiesbadens funktioniert bis heute zum größten Teil als Mischwassersystem. Nur in einigen Bereichen der 1977 eingemeindeten östlichen Vororte wie z. B. Breckenheim hat man das Neubaugebiet »Pfingstborn« im Trennsystem kanalisiert. Von den sechs östlichen Vororten entsorgen Breckenheim, Nordenstadt und Delkenheim ihre Abwässer nicht nach Wiesbaden, sondern nach Flörsheim ins Klärwerk. Die Wiesbadener Kanalisation verfügt über ca. 819 km Gesamtlänge, ca. 77 davon begehbar mit einem Durchmesser von 120 cm. Ca. 84 km sind mit Durchmessern von 80 bis 120 cm bekriechbar. Zum Kanalsystem gehören ca. 22.000 Schachtbauwerke, ca. 27.000 Straßeneinläufe, ca. 2.200 km private Hausanschlussleitungen, 58 Regenüberlaufwerke, 30 Regenrückhaltebecken. Der Anteil der reinen Regenwasserkanäle am öffentlichen Kanalnetz beträgt 3 %. Hinzu kommen noch einige Kilometer sogenannter Thermalkanäle, die zum Teil begehbar und in denen die Versorgungsleitungen der ehemaligen und heutigen Badeanstalten installiert sind.
Literatur
Brix, Joseph: Die Canalisation von Wiesbaden, Wiesbaden 1887.
Silberzahn, Joachim: Geschichte der Kanalisation und Klärwerk in Wiesbaden. Vom 19. Jahrhundert bis heute, Wiesbaden 2015.