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Wiesbadener Programm

Artikel

Die theologischen Grundlagen des sogenannten Wiesbadener Programms für den protestantischen Kirchenbau wurden von dem Wiesbadener Pfarrer Emil Veesenmeyer entwickelt und 1890 im Evangelischen Gemeindeblatt (Dillenburg) veröffentlicht. Zentrale Punkte des Wiesbadener Programms waren:

»1. Die Kirche … soll das Gepräge eines Versammlungshauses der … Gemeinde, nicht dasjenige eines Gotteshauses im katholischen Sinne an sich tragen.

2. Der Einheit der Gemeinde und dem Grundsatze des allgemeinen Priesterthums soll durch die Einheitlichkeit des Raums Ausdruck gegeben werden. Eine Theilung des letzteren in mehrere Schiffe sowie eine Scheidung zwischen Schiff und Chor darf nicht stattfinden.

3. Die Feier des Abendmahls soll sich nicht in einem abgesonderten Raume, sondern inmitten der Gemeinde vollziehen. Der mit einem Umgang zu versehende Altar muss daher, wenigstens symbolisch, eine entsprechende Stellung erhalten. Alle Sehlinien sollen auf denselben hinleiten.

4. Die Kanzel, als derjenige Ort, an welchem Christus als geistige Speise der Gemeinde dargeboten wird, ist mindestens als dem Altar gleichwerthig zu behandeln. Sie soll ihre Stelle hinter dem letzteren erhalten und mit der im Angesicht der Gemeinde anzuordnenden Orgel- und Sängerbühne organisch verbunden werden.« (Zitat nach Fritsch)

Gerichtet war das Wiesbadener Programm gegen das 1861 verabschiedete sogenannte Eisenacher Regulativ zum protestantischen Kirchenbau, nach dem alle kirchlichen Stellen angewiesen worden waren, bei Neubauten auf die Einhaltung des romanischen oder gotischen Stils zu achten. Damit folgten evangelische Baukonzepte drei Jahrzehnte lang einem römisch-katholischen Messverständnis.

Als nach der Marktkirche und der Bergkirche eine dritte evangelische Kirche in Wiesbaden erbaut werden sollte, setzte Veesenmeyer sein Konzept bei den Entscheidungsträgern durch. Mit dem Neubau wurde der Berliner Architekt Johannes Otzen betraut, der, seit 1889 in die Planung eingebunden, mit der Ringkirche die erste architektonische Umsetzung des Wiesbadener Programms schuf.

Veesenmeyers Vorstellungen, wie eine protestantische Kirche auszusehen habe, betrafen weniger den Stil als die eigentliche Baufunktion. Hierin folgte das Wiesbadener Programm bereits dem Grundsatz der Moderne, den der amerikanische Architekt Louis Henry Sullivan (1856–1924) 1904, zehn Jahre nach Fertigstellung der Ringkirche, auf die Formel »form follows function« brachte. So war der Einfluss des Wiesbadener Programms nicht nur in zahlreichen, vom Jugendstil beeinflussten Kirchen, sondern über den Ersten Weltkrieg hinaus bis weit in die 1920er-Jahre hinein wirksam.

Direkte Folge des Wiesbadener Programms war der erste Kongress für protestantischen Kirchenbau 1894 in Berlin, wo Veesenmeyer das Programm vorstellte.

Literatur

F. (Fritsch, Karl Emil Otto): Dritte ev. Kirche für Wiesbaden. In: Deutsche Bauzeitung, XXV. Jg., 1891, Nr. 43 [S. 257 f.].

Genz, Wiesbadener Programm; V. (Veesenmeyer, Emil): Grundsätze und Vorschläge für den Bau evangelisch-protestantischen Kirchen. In: Evangelisches Gemeindeblatt, hrsg. v. C. Bickel u. a., Dillenburg, 10. Jg., 1890, Nr. 46 [S. 364 ff.].