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Verlagsstadt Wiesbaden

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Im 18. Jahrhundert hatte nur das Waisenhaus das Recht, Bücher drucken zu lassen und zu vertreiben. Das Privileg beschränkte sich aber auf religiöse Schriften wie Gesangbücher und Bibeln, auf Schulbücher und sonstiges Lehrmaterial sowie einige Titel zur Kur- und Bäderliteratur.

Erster Verleger Wiesbadens ist der Buchhändler und -drucker Ernst Ludwig (Louis) Theodor Schellenberg. Das zweibändige »Lehrbuch der praktischen Rechenkunst für Schulen, angehende Kaufleute und andere Geschäftsmänner« von Wilhelm Ludwig Hülshoff eröffnete 1811 das Verlagsprogramm. Bis zum Tod Schellenbergs 1834 folgten noch gut 50 Titel. Schellenberg hatte von der nassauischen Regierung den Auftrag erhalten, den »Herzoglich-nassauischen allgemeinen Landeskalender« im Umfang von 40 Seiten und in einer jährlichen Auflage von rund 50.000 Exemplaren herzustellen, womit Drucker und Pressen einige Monate beschäftigt waren. Eine klare Linie lässt Schellenbergs Verlagsprogramm nicht erkennen. Das Spektrum der Titel reicht von Schriften der damals bekannten Autorin Regine Frohberg (1783–1850) über Titel zur Tagespolitik bis hin zu wissenschaftlichen Werken der Fachrichtungen Geschichte, Archäologie, Germanistik, Mathematik und Balneologie (darunter »Wiesbaden und seine Heilquellen« von Georg Christoph Wilhelm Rullmann, 1790–1837).

Mit einem guten Teil seiner Werke ist der Publizist Johannes Weitzel bei Schellenberg vertreten. Reisebeschreibungen von Heinrich Christian Thilenius, Johann Isaak von Gerning oder vom heute vergessenen Gerhard Friederich gehörten ebenso wie Wilhelm Dorows »Opferstätte und Grabhügel der Germanen und Römer am Rhein« oder die inzwischen als Rarität gehandelte erste Werkausgabe »J. G. Seume’s gesammelte Schriften« zum Verlagsprogramm. Zweiter Wiesbadener Buchhändler und Verleger war Heinrich Ritter, einst Lehrling in der Schellenberg’schen Hofbuchhandlung und Kostgänger bei der Familie seines Lehrherrn.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren es 45 Buchhandlungen oder Druckereien, die sich neben ihrem Hauptgeschäft auch verlegerisch betätigten. In nennenswertem Umfang sind Bücher nur in den Buchhandlungen Kreidel, Limbarth, Niedner, Plaum, Ritter sowie Staadt und in den Druckereien Bechthod, Riedel, Schellenberg und Stein erschienen. Überregionale Bedeutung erlangte nur Schellenberg in den Jahren 1811–34. Das änderte sich erst, als der Wiesbadener Volksbildungsverein ab Oktober 1900 eine Reihe mit dem Namen Wiesbadener Volksbücher herausgab, die deutschlandweit Verbreitung fand. Auch der 1929 hier gegründete Gabler-Verlag (Betriebswirtschaft) war überregional publizistisch tätig.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer vehementen Entwicklung auf dem Gebiet des Wiesbadener Buch- und Zeitschriftenverlagswesens. Bevor amerikanische Truppen vertragsgemäß die von ihnen besetzten mitteldeutschen Gebiete räumten, veranlassten mit dem deutschen Verlagswesen bestens vertraute Offiziere der »Information Control Division« (ICD) Leipziger Verlage zum Umzug nach Wiesbaden. Es waren dies der Brockhaus Verlag, die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, der Insel Verlag und der Georg Thieme Verlag. Noch 1945 folgten der Musikverlag Breitkopf & Härtel und die Kesselring’sche Verlagsbuchhandlung, 1948 der Otto Harrassowitz Verlag und 1950 der Oscar Brandstetter Verlag. Die ausgewählten Verleger oder ihre Bevollmächtigten durften mit engen Familienangehörigen, einigen leitenden Mitarbeitern und nur wenig Gepäck nach Wiesbaden reisen, um Zweigbetriebe zu gründen. Sie konnten nicht ahnen, dass ihre (ausgebombten) Leipziger Betriebe später enteignet werden würden.

Auch den »Börsenverein der Deutschen Buchhändler« veranlassten die Amerikaner, in Wiesbaden eine Zweigstelle, den Börsenverein des Deutschen Buchhandels, aufzubauen. Das Motiv der amerikanischen Administration war die Absicht, mit Hilfe der Publizistik Einfluss auf die Deutschen zu nehmen (»reeducation« oder »reorientation«), um nach der NS-Herrschaft eine gefestigte Demokratie zu etablieren.

Ihr erstes Zuhause hatten die Leipziger Verlage und Georg Kurt Schauer vom Börsenverein im damaligen »Tagblatt-Haus«. Als hier der Wiesbadener Kurier gegründet wurde, zogen sie in den Pariser Hof. 1945 wurden neun in Wiesbaden ansässig gewordene Verleger von der Militärregierung lizenziert, darunter als wohl bedeutendste Neugründung der Limes-Verlag.1946 kamen sechs weitere Verlage hinzu, 1947 besaßen allerdings nur noch zwölf Wiesbadener Verlage die Lizenz. Mitte 1948 waren dann schon 22 Verlage in Wiesbaden registriert.

Der Lizenzerteilung gingen monatelange Wartezeiten voraus, weil von verschiedenen amerikanischen Stellen die politische Zuverlässigkeit und die fachliche Eignung der Bewerber sehr genau geprüft wurden. Einer direkten Zensur unterlagen die Verlage nicht, es wurde aber erwartet, dass keine Schriften nationalsozialistisch belasteter Autoren veröffentlicht wurden. Bei Zuwiderhandlung drohte der Entzug der Lizenz. Die Kontrolle wurde von der ICD ausgeübt.

Fast alle Wiesbadener Verlage arbeiteten für den gesamten deutschen Sprachraum und wurden international beachtet. So war Wiesbaden zu einem begehrten und öffentlich geförderten Standort des Buchgewerbes geworden. Von Herbst 1945 bis Frühjahr 1948 konnten in Wiesbaden 406 Titel mit einer Gesamtauflage von zweieinhalb Millionen Exemplaren herausgebracht werden. Wegen Bevorzugung bei der Papierzuteilung waren US-Autoren mit Übersetzungen ihrer Werke auffallend häufig vertreten. In der Folge siedelten sich mehrere Modezeitschriften- und Bühnenverlage an, so dass Wiesbaden 1953 in der Bundesrepublik an sechster Stelle der Verlagsstädte rangierte, in Hessen nach Frankfurt an zweiter.

Absatzsorgen kannten die Verleger zunächst nicht. Wegen der Papierknappheit waren die Auflagen der meisten Titel auf 5.000 Exemplare limitiert, die mit ihrem Erscheinen fast immer schon vergriffen waren. Da ausreichend Geld vorhanden war, Konsumgüter aber nicht angeboten wurden, kauften die Menschen Bücher. Umso krasser waren die Auswirkungen der Währungsreform vom 20.07.1948. Jetzt warben die lange vermissten Konsum- und Luxusgüter um knappes Geld, Bücher waren plötzlich nicht mehr gefragt. Die weitere Entwicklung Wiesbadens als Verlagsstadt kann anhand der Branchenverzeichnisse der Adressbücher verfolgt werden.

Nach Statistiken des »Börsenvereins des Deutschen Buchhandels« erschienen in Wiesbaden im Durchschnitt der Jahre 1965–2000 jährlich 830 Titel, wobei das Maximum 1983 mit 1.255 Titeln angegeben wird, während es 1965 nur 527 waren. Die effektiven Zahlen liegen aber etwas höher, weil nur die Mitglieder des Börsenvereins berücksichtigt sind. Gemessen an Titeln rangierte Wiesbaden zwischen 1965–96 in der Bundesrepublik zwischen der 9. Stelle (1968) und der 16. Stelle (1980).

Von den 43 Verlagen, die 1950 in Wiesbaden ansässig waren, haben nur noch Brandstetter, Breitkopf & Härtel, Chmielorz, Gabler (seit 2012 Springer Gabler, Teil von Springer Science+Business Media), Harrassowitz, der Kommunal- und Schulverlag sowie der Universum- Verlag ihren Firmensitz in Wiesbaden. Obwohl kein klassischer Buch- oder Zeitschriftenverlag, sei der Deutsche Genossenschaftsverlag, der 1949 nach Wiesbaden zugezogen ist und hier stark expandiert hat, der Vollständigkeit halber angeführt.

Literatur

Dörr, Marianne: Buchstadt Wiesbaden? Einblicke in die Wiesbadener Verlagsgeschichte. Begleitheft zur Ausstellung in der Hessischen Landesbibliothek Wiesbaden, Wiesbaden 2004.

Müller-Schellenberg, Guntram: Wiesbadens Pressegeschichte, Bd. 1: Von Napoleon zu Bismarck. Die Presse im Spannungsfeld von Kultur, Wirtschaft und sozialen Verhältnissen. Taunusstein 2011.

Schellenberg'sche Hofbuchdruckerei, um 1894 wiesbaden.de/ Stadtarchiv Wiesbaden, F000-3949, Urheber: unbekannt
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