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Kalle, Friedrich (Fritz)

Kalle, Friedrich (Fritz)

Unternehmer, Sozialpolitiker

geboren: 12.01.1837 in Paris

gestorben: 31.07.1915 in Wiesbaden


Artikel

Kalle studierte Bergbaukunde in Bonn, Berlin und Freiberg, trat 1865 in die Chemische Fabrik Kalle & Co. seines Bruders Wilhelm Kalle ein und übernahm deren kaufmännische Leitung. Der unmittelbare Kontakt zu den Arbeitern, deren wirtschaftliche Situation, Schwierigkeiten und Nöte er nun aus eigener Anschauung kennen lernte, ließ sein soziales Interesse erwachen. Er gründete Wohlfahrtseinrichtungen wie einen ärztlichen Betreuungsdienst, der die Arbeiter unentgeltlich versorgte; aus dieser Einrichtung ging 1884 eine Betriebskrankenkasse hervor. Zur Linderung finanzieller Not rief Kalle eine Sparkasse mit besonders günstigen Konditionen sowie eine Prämienkasse ins Leben, in die das Unternehmen für die Beschäftigten je nach deren Firmenzugehörigkeit Einlagen einbrachte. Bahnbrechend jedoch war die Einführung eines Ausschusses, den die Arbeiter aus ihren Reihen wählten und der schon damals Mitsprache- und Mitwirkungsrechte in betrieblichen Angelegenheiten erhielt.

Kalle war Mitglied der Nationalliberalen Partei und wirkte in verschiedenen Arbeitgeberorganisationen mit. So wurde er 1877 Reichsvorsitzender eines Zusammenschlusses der deutschen Chemischen Industrie. Volksbildung war für ihn der Schlüssel zur Lösung der »socialen Frage«. So gab er den Anstoß zur Gründung der »Gesellschaft zur Verbreitung der Volksbildung« (1871) und des Vereins zur Förderung des Wohls der Arbeiter »Concordia« (1879). Bis zum Ersten Weltkrieg unterstützte seine Gesellschaft zur Verbreitung der Volksbildung 94.138 Volksbüchereien in Deutschland mit weit über zwei Millionen Bänden. Auch in Wiesbaden und Biebrich gab es Zweigstellen. Bei diesem Engagement war es nur ein kleiner Schritt, der ihn zur Politik führte. 1873 und 1879 wurde er in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt, 1882–89 gehörte er für die Nationalliberale Partei dem Reichstag an und setzte sich im Finanzausschuss für ein gerechteres Steuersystem und die allgemeine Einführung eines Unfallversicherungsgesetzes ein. Nach seinem Ausscheiden aus dem Reichstag engagierte er sich in Wiesbaden als Stadtrat und ehrenamtliches Magistratsmitglied (1890–1903) in Fragen der allgemeinen Finanzverwaltung sowie für das städtische Armen-, Schul- und Gesundheitswesen. Auf seine Anregung geht die Einführung der ärztlichen Überwachung der öffentlichen Schulen zurück. 1895 setzte Kalle als Vorsitzender des Gesundheitsausschusses und Mitglied des Magistrats die Einstellung von vier nebenamtlichen Schulärzten durch. Der preußische Kultusminister empfahl die Idee anderen Stadtverwaltungen zur Nachahmung. Auch die Einführung von »Haushaltsunterricht« an allen Oberklassen der Wiesbadener Mädchenschulen geht auf Kalle zurück und wurde bald von anderen Städten kopiert.

Kalle war in zahlreichen gemeinnützigen Vereinen, Anstalten und Stiftungen ehrenamtlich tätig. Vielfach wurde er geehrt: Professorentitel (1899) und Ehrendoktorwürde der Universität Erlangen (1913), Ernennung zum Geheimen Regierungsrat (1907), Verleihung des Wilhelms-Ordens durch Kaiser Wilhelm II. 1902, Ehrenbürgerwürde der Stadt Wiesbaden 1903. Kalle erhielt auf dem Nordfriedhof ein Ehrengrab. Eine Straße ist nach ihm benannt.

Literatur

Horn, Hans-Rudolf: Die Kalle-Dynastie. Pioniergeist und soziales Engagement. In: Schmidt-von Rhein, Casino- Gesellschaft [S. 160–166].