Sprungmarken

Großsiedlungen

In den 1960er- und 1970er-Jahren entstanden in Wiesbaden drei Großsiedlungen nach Planungen des Architekten und Städteplaners Ernst May. Die Siedlungen Biebrich-Parkfeld, Klarenthal und Schelmengraben wurden fern der Innenstadt „auf der grünen Wiese“ errichtet. Die vorhandene Altbebauung in der City galt dagegen vielfach als unattraktiv und ihre Sanierung als zu teuer.

Details

Der bestimmende Typus im Wohnungsbau der 1960er-Jahre waren Großsiedlungen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Die wirtschaftlich und von der Geburtenrate her gesehen sehr starken 1960er- und 1970er-Jahrgänge bedingten einen entsprechend hohen Wohnungsbedarf. In Hessen gab es 1956 noch einen Fehlbestand von 20,3 % im Verhältnis zu den bestehenden Wohnungen. In Wiesbaden rechnete man zudem damit, dass sich insbesondere auf Grund der „zunehmenden Überfüllung des Frankfurter Raumes (…) auch in Zukunft der Reiz Wiesbadens als Wohnstadt auswirken wird."

Die vorhandene Bausubstanz galt jedoch aufgrund der nach Abschluss des Wiederaufbaus gestiegenen Anforderungen an die Wohngröße, den Komfort, die Verkehrsanbindung, Lage und Infrastruktur als veraltet und sanierungsbedürftig. Eine Sanierung erschien aber wegen der „nicht rentierlichen Kosten“, die dabei anfallen würden, als unattraktiv. Gleichzeitig wurden die Kernstädte als Geschäfts- und Verwaltungszentren ausgewiesen, so dass es dort viel zu wenige Freiplätze für Neubauten gab. Ende der 1950er-Jahre wurden daher vermehrt Großsiedlungen bisher unbekannten Ausmaßes auf der grünen Wiese vor den Toren der Stadt errichtet, um den Anforderungen gerecht werden zu können.

In den Siedlungen zeigte sich die zunehmende Mobilisierung der Bevölkerung: Sie boten meist eine sehr gute Anbindung an die Autobahn, ein großzügig ausgebautes Straßennetz und ausreichend PKW-Stellplätze. Typisch war auch die Trennung zwischen dem Fußgänger- und dem motorisierten Verkehr. Bei den Grundrissen stand die Minimierung der Erschließungsflächen im Vordergrund, was häufig zu Lösungen mit offenen Wohnräumen, Küchenzeilen und/oder Essdielen führte. Private Freiräume in Form von Balkonen und Loggien in fast allen Wohnungen boten zusätzlichen Wohnkomfort.

Diese hier allgemein skizzierten Entwicklungen zeigten sich auch in Wiesbaden. Die Innenstadtlage der Landeshauptstadt, insbesondere der Bereich der so genannten City Ost, wurde weitgehend für die Ansiedlungen von privaten und staatlichen Verwaltungen vorgesehen. Der „höchst mangelhafte Zustand der Altbebauung“ sollte nach dem Bau neuer Großsiedlungen durch Flächensanierungen, d. h. großflächigen Abriss, angegangen werden.

In den 1960er-Jahren entstanden drei Großsiedlungen auf freiem Feld: Biebrich-Parkfeld (Biebrich), Klarenthal und Schelmengraben. Die Auswahl der Siedlungsgebiete Klarenthal und Schelmengraben erfolgte nach umfangreichen Untersuchungen zur Luftverunreinigung im Stadtkreis. An den späteren Siedlungsstandorten war eine besonders geringe Verschmutzung festgestellt worden und die in das Stadtgebiet abfallenden, landschaftlich reizvollen Taunushänge empfand man zusätzlich als in besonderem Maße für Wohnzwecke geeignet. Die damals ausgewiesenen Wohnbauflächen wurden so bemessen, dass sie für einen Zeitraum von circa 20 Jahren ausreichen sollten, um den berechneten optimalen Mehrbedarf an Wohnungen zu fassen.

Die Großsiedlungen entstanden nach den Planungen des international bekannten und erfahrenen Architekten und Städteplaners Ernst May. Der Siedlung Biebrich-Parkfeld war ein Wettbewerb vorausgegangen, den May gewonnen hatte. Klarenthal und Schelmengraben entwickelte May bereits als Planungsbeauftragter der Stadt. Angewandt wurde fast durchweg das Prinzip der „Staffelbauweise“. Dabei kommen innerhalb bestimmter Siedlungsbezirke bewusst verschiedene Bauformen zum Einsatz: Vom erdgeschossigen Atriumhaus über zweigeschossige Reihenhäuser und drei- bis viergeschossige Mittelbauweise bis zum Punkthochhaus. Die unterschiedlichen Formen hatten die Funktion, ein möglichst abwechslungsreiches Wohnumfeld zu schaffen. In manchen Städten wandte man zusätzlich noch Wohnringe und -schlangen an. Zur Vermeidung der Zersiedlung des Stadtrandes und der angrenzenden Freiflächen der Stadt Wiesbaden wiesen die Planer bereits darauf hin, dass die Bebauung in den kommenden Entwicklungsperioden auf die ausgewiesenen neuen Siedlungsgebiete zu konzentrieren sei.

Die Siedlung Biebrich-Parkfeld, 1959-1970

Für die Siedlung Biebrich-Parkfeld wurde 1959 ein Wettbewerb ausgeschrieben, zu dem Ernst May durch den Wiesbadener Stadtbaurat Simon zur Teilnahme aufgefordert wurde. Simon kannte Mays Entwurf für die Wohnstadt „Am Limes“ in Schwalbach, der ihn sehr beeindruckt hatte. Zum Wettbewerb gingen insgesamt 45 Entwürfe ein. Ernst May erhielt einstimmig den ersten Preis zuerkannt. Nach Mays Entwurf dienten der Erschließung des von Nord nach Süd abfallenden 31,8 ha großen Geländes zwei parallele Straßen. Die Straße Am Parkfeld bestand bereits und wurde nun zur Reduzierung des Durchgangsverkehrs in ihrem mittleren Teil abgetrennt. Im Westen kam die durchgehende Albert-Schweitzer-Allee neu hinzu. Zusammen dienten sie als „Wohnsammelstraßen“, das heißt hier sollte der Verkehr der Siedlung gesammelt werden, wohingegen die leiterartig dazwischen gespannten schmaleren Straßen nur den direkten Anwohnerverkehr aufzunehmen hatten.

Bei den verwendeten Bautypen zeigt sich der Wunsch nach einer abwechslungsreichen Architekturlandschaft durch unterschiedliche Höhen und Zuordnungen. Die Bebauung entlang den drei parallel von West nach Ost verlaufenden Straßen wurde zunächst relativ gleichartig gestaltet: Ensembles von Mehrfamilienhausblöcken standen Reihenhäusern verschiedener Ausbildung gegenüber. Durch die zudem unterschiedliche Anordnung zur Straße und eine angerartige Aufweitung der Wohnstraße zur Aufnahme vertiefter Stellplätze und Garagen wurde der Eindruck von langen, monotonen Zeilen vermieden. Gleichzeitig schlossen die westlichen höheren Blocks jeweils die drei Wohneinheiten zur Durchgangsstraße hin optisch und akustisch ab. Nördlich des Zentrums steigerte sich die Wohndichte gegenüber dem südlichen Bereich, während westlich der Durchgangsstraße Reihenhauskomplexe eigene Ensembles bildeten. Im nördlichen Bereich wurde ein Versorgungszentrum mit Hochhaus optisch weithin sichtbar konzentriert. Die dortigen Versorgungsmöglichkeiten wurden durch Schulen und eine Kirche im westlichen Bereich der Siedlung ergänzt.

Auffällig ist die Durchgrünung der Siedlung. Das Gelände einer ehemaligen Gärtnerei und eine Ausweitung des Schlossparks Biebrich führten zu großzügigen Grünbereichen, die heute teils als Schrebergartenanlage genutzt werden, teils eine abwechslungsreiche Freizeitanlage mit Weiher und Bachlauf darstellen. Ernst May sah den Schlosspark, neben seiner Funktion als Staubfilter, insbesondere als willkommenen wohnungsnahen Erholungsbereich. Er empfand zudem die Lage der Siedlung zum benachbarten Gewerbe- und Industriegebiet als günstig, da dadurch nicht mit nennenswerter Verkehrsbelastung zu rechnen sei.

In der Siedlung Biebrich-Parkfeld ist deutlich das Bemühen spürbar, durch die Abgrenzung überschaubarer Wohngruppen und -ensembles menschlich erfassbare Stadträume zu schaffen. Sie sind jeweils klar, doch variantenreich gegliedert. Unterschiedliche Wohntypen dienten zudem der Durchmischung der Bevölkerungsstruktur, was jedoch im weiteren Verlauf der Siedlung nicht immer erreicht wurde.

Der Bau der Siedlung begann, aufgrund langwieriger Grundstücksverhandlungen in etwas abweichender Form vom Entwurf, erst in den frühen siebziger Jahren. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Wettbewerbserfolgs von Ernst May wurde dieser zum Planungsbeauftragten der Stadt Wiesbaden ernannt. In dieser Funktion plante er auch die Siedlungen Klarenthal und Schelmengraben.

Die Siedlung Klarenthal, 1960-1969

Klarenthal war mit 4.000 neuen Wohnungen für rund 14.000 Menschen auf 138,5 ha damals das größte geschlossene Siedlungsprojekt Mays in Wiesbaden. Die Siedlung liegt auf einem in West-Ost-Richtung abfallenden Hang und wird durch einen Graben durchschnitten. Entlang dieses Grabens erfolgte auch die Erschließung durch verschiedene Sammelstraßen in Schleifenform und durch Sackgassen. Zwei der Straßen erschließen vor allem Reihenhäuser im westlichen Teil der Siedlung und ein Einfamilienhausgebiet im tiefer gelegenen östlichen Bereich der Siedlung. Eine Schleife im östlichen Bereich erschließt eine Gruppe höherer Gebäude mit fünf an höchster Stelle gelegenen Punkthochhäusern mit bis zu 16 Geschossen.
Die Großsiedlung erhielt eine eigene Infrastruktur mit Einkaufszentrum, Kindergärten, Schule und Sporteinrichtungen. Am Kreuzungspunkt der großen Straßen im Tal lag das Hauptzentrum der Siedlung. Generell folgte man in der Siedlung Klarenthal dem seit den 1920er-Jahren geforderten Prinzip der Trennung von Wohnen und Arbeiten. Die hohen Grundstückspreise führten jedoch 40 Jahre später zu einer Verdichtung, die sich baulich in der Bevorzugung von Hochhäusern ausdrückte. Der Eindruck „optischer Dichte“ sollte jedoch unter anderem durch die starke Durchgrünung vermieden werden. Die Terrassierung der Gebäude und ihre höhenmäßige Staffelung ermöglichten einem großen Teil der Bewohner einen weiten freien Blick auf Tal und Hang.

Der Automobil- und Fußgängerverkehr wurde strukturell getrennt. May hoffte, dass der Großteil des Berufsverkehrs mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigt würde, sah jedoch vorausschauend auch einen großen Bedarf an Garagen und Stellplätzen voraus. Er plante daher je eine Garage bzw. einen Stellplatz pro Einfamilienhaus bzw. pro Mietwohnung ein. Zweigeschossige Parkhäuser nutzten hierfür die Hanglage aus. Die eigentlich vorgesehene Hauptzufahrt zur Siedlung von der Klarenthaler Straße über die Goerdelerstraße wurde jedoch erst sehr viel später gebaut, was lange zur Isolierung der Siedlung beitrug.

Sowohl aufgrund gesetzlicher Vorgaben als auch aus sozialpolitischen Überlegungen heraus wurden auch in Klarenthal die Wohn-, Haus- und Eigentumsformen gemischt. Deutlicher noch als in Biebrich-Parkfeld experimentierten die Planer hier mit der Großtafelbauweise. Ernst May hatte bereits in Frankfurt während der 1920er-Jahre in verschiedenen Siedlungen Erfahrungen mit dieser Technik gesammelt und wandte sie nun verstärkt an. Die nach Typenentwürfen produzierten Einheiten wurden zu vier- bis achtstöckigen Häusern montiert und erhielten dadurch eine charakteristische kubische Silhouette mit Flachdächern. Die einzelnen Elemente kamen bereits mit Leitungen, Tür- und Fensterrahmen und in den Deckenplatten integrierten Heizungen auf die Baustelle. Bei der Außenhaut sollte „absolute Zweckmäßigkeit bei voller Berücksichtigung der ästhetischen Erfordernisse bestimmend für die Materialauswahl sein. Jede geliehene Repräsentation (sollte) verbannt sein“. Durch die sichtbar belassenen Fugen blieb daher die fortschrittliche Bauweise erkennbar. Bei den Bewohnern stieß die ästhetische Erscheinung der Bauten jedoch auf starke Ablehnung; sie wurde als zu monoton empfunden. Zur Milderung wurde ein Farbkonzept erarbeitet und umgesetzt.

Die Siedlung Schelmengraben, 1961

Die Siedlung Schelmengraben liegt mit ihren circa 2.400 Wohneinheiten auf 49,2 ha angrenzend an den Ortsteil Dotzheim an einem Hang. Sie wurde klar von den Siedlungsgebieten abgegrenzt, indem Dauergrünanlagen und ein Sportzentrum den nordöstlichen Rand bildeten und im Süden eine Umgehungsstraße entstand. Ein durch das Siedlungsgebiet laufender Graben bildet die Haupterschließung der Siedlung. Der Siedlungsbeginn wurde durch Punkthochhäuser, bewusst als städtebauliche Dominante eingesetzt, gebildet. Entlang dem Graben begleiten vor allem Mittelbauten mit acht Geschossen, teils versetzt oder abknickend, die Straße. Nach Osten wurden viergeschossige Bauten kammartig an die Straße gelegt, bis im Süden eingeschossige Bauformen in L-Form den Abschluss bilden. Als Abschluss vor dem Hintergrund des Taunus platzierte man drei weitere Punkthochhäuser.

Zur Versorgung der Bewohner erhielt die Siedlung ein Hauptzentrum, das sich etwa in der Mitte der Siedlung befand. Hier wurden Einkaufsmöglichkeiten, Schulen und weitere Infrastruktur-Einrichtungen angelegt. Die Planer betonten, dass großer Wert auf eine gute Belüftung auch der angrenzenden Bebauung „Märchenland“ und auf einen guten Durchblick nach Osten gelegt wurden. Diesem Zweck sollte die Errichtung der mittelhohen Gebäude auf Stützen dienen. Als besonderer Vorzug wurde auch, wie in Klarenthal, der freie Blick der Bewohner gelobt. Hier geht er vom Höhenrücken aus auf die in der Niederung gelegene Stadt und in das Rheintal. Die Wohnungen erhielten jeweils eine Garage und einen halben Abstellplatz zugewiesen, die sich wiederum teilweise in zweistöckigen Garagenanlagen befanden.

Das Bemühen um soziale Integration durch gemischte Wohn- und Eigentumsformen bei baulicher und stilistischer Einheit, das sich in den Großsiedlungen zeigt, gründete noch in den 1920er-Jahren. Hier entwickelten sich durch die mitgeplanten sozialen Infrastruktureinrichtungen nur bedingt soziale Brennpunkte - im Gegensatz zu den reinen „Schlafstädten“ der 1970er-Jahre. Die Siedlungen dieser Zeit haben jedoch mehr als die früheren Siedlungen mit dem Problem des schlechten Images zu kämpfen. Anfangs für die Mittelschicht geplant, mutierten sie teilweise zu Abschiebewohnquartieren für sozialschwache Schichten der Bevölkerung. Manche Siedlungen leiden noch heute unter einer recht isolierten Lage. Von den drei genannten Siedlungen in Wiesbaden sind insbesondere im Schelmengraben einige dieser Probleme zu beobachten.

Literatur


Ein Spielplatz im Biebricher Parkfeld, 1970. Stadtarchiv Wiesbaden, Foto: Joachim Weber
3 / 5