Volkshochschule Wiesbaden
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Volkshochschulen wurden in Deutschland meist erst zu Beginn der Weimarer Republik ins Leben gerufen. In ihrer Mehrzahl waren sie Sammelpunkte der demokratischen Kräfte jenes ersten freiheitlich verfassten Staatswesens der deutschen Geschichte. In Artikel 148 der Reichsverfassung von 1919 war die Förderung des Volksbildungswesens und speziell auch der Volkshochschulen als Aufgabe von Reich, Ländern und Gemeinden ausdrücklich festgelegt. Die neuen Erwachsenen- und Weiterbildungseinrichtungen waren jedoch mitnichten Hochschulen. Vielmehr wollten sie durch Hebung der allgemeinen Volksbildung insbesondere auch zur aktiven und mündigen Mitwirkung der Bevölkerung am soeben geschaffenen „demokratischen Volksstaat“ beitragen. In ihnen bündelten sich zwei demokratisch-aufklärerische Traditionen, die sich beide mindestens bis zur Revolution von 1848/49 zurückfolgen lassen, und zwar die Bildungsideen und Qualifizierungsbemühungen des liberalen Bürgertums sowie diejenigen der Arbeiterbewegung.
Die Wiesbadener Volkshochschule (VHS) wurde am 9. Januar 1921 im Rathaus (Rathaus, neu) feierlich eröffnet. Auch an ihrer Gründung waren bürgerliche Kreise, darunter Vertreter des Volksbildungsvereins und des Philologenverbandes, wie solche der Arbeiterbewegung beteiligt. Zu ihren ersten Sponsoren gehörten die Sektkellerei Henkell (Henkell & Co., Sektkellerei) und die Maschinenfabrik Wiesbaden. Eine Geschäftsstelle wurde im Lyzeum II – heute Elly-Heuss-Schule – am damaligen Boseplatz eingerichtet, dem jetzigen Platz der Deutschen Einheit. Aula und Unterrichtsräume dieser Schule durften seinerzeit ebenfalls benutzt werden.
Das Bildungsprogramm wandte sich an die „geistig Suchenden aus allen Volksschichten“. Dass diese auch wirklich erreicht wurden, belegt bereits eine Statistik aus dem Gründungsjahr. Als grundlegendes Ziel der pädagogischen Bemühungen wurde die „allgemeine öffentliche Geistespflege für Erwachsene“ definiert. Die diversen Arbeitsgemeinschaften der VHS verstanden sich „als Grundeinheiten des demokratischen Volksstaats.“
In den folgenden wirtschaftlich geradezu dramatischen Jahren wuchs vor allem den Lehrgängen für Arbeitslose immer größere Bedeutung zu. Gleichzeitig ging die öffentliche Bezuschussung fortwährend zurück, bis sie 1931 schließlich eingestellt wurde. Großzügigen Spenden von privater Seite und dem Verzicht der Lehrkräfte auf ein Honorar war es zu verdanken, dass Arbeitslosen, aber auch anderen sozial Bedürftigen dennoch eine unentgeltliche oder kostengünstige Teilnahme an den Lehrgängen ermöglicht werden konnte.
1933 wurde die VHS von den Nationalsozialisten aufgelöst. Johannes Maaß, vordem in Personalunion ihr Geschäftsführer und Studienleiter sowie Vorsitzender des Trägervereins, des schon 1920 gegründeten Volkshochschulbundes Wiesbaden und Umgebung, wurde seiner Ämter enthoben. Außerdem wurde er als Volksschullehrer entlassen und unter Polizeiaufsicht gestellt. 1944 erfolgte seine Verhaftung und anschließende Verbringung in das KZ Dachau, aus dem er erst nach mehreren Monaten wieder freikam.
Nachdem Maaß im Einvernehmen mit der amerikanischen Militärregierung 1945 zum Schul- und Kulturdezernenten bestimmt worden war, konnte er seit dem folgenden Jahr als hauptamtlicher Stadtrat für Schule, Volksbildung und Sport wirken. Am 2. Juni 1946 war es ihm vergönnt, die VHS zum zweiten Mal zu eröffnen, und zwar zusammen mit Franz Götting, dem Direktor der Nassauischen Landesbibliothek. Dieser sollte dann von 1956 bis 1968 als Vorsitzender der Erwachsenenbildungseinrichtung fungieren, nachdem zuvor Helmut Schoppa diese Funktion ausgeübt hatte. 1946 wurde auch der Trägerverein wieder gegründet.
Nachdem zunächst Erich Tschirn hauptamtlicher Geschäftsführer der neuen VHS gewesen war, dem schon 1947 Erich Mende gefolgt war, wirkte ab 1953 Eberhard Stephan als deren hauptberuflicher Leiter, seit 1965 übrigens mit der Amtsbezeichnung Volkshochschuldirektor. Ihm folgte 1980 Horst Castendyk in jener Funktion.
Vom damaligen Bürgermeister Georg Buch, der sich zeitlebens als „Schüler“ des um zwei Jahrzehnte älteren Maaß verstanden hat, war der VHS 1956 das Gebäude Dotzheimer Straße 3 als „vorläufige Bleibe“ zugewiesen worden. Ansonsten waren die 1950er- und 1960er-Jahre geprägt von neuerlichen Existenzkrisen, verursacht durch die ungesicherte kommunale Bezuschussung. Dies änderte sich erst nach 1970 durch die Verabschiedung des Hessischen Volkshochschulgesetzes, das die Betreibung einer VHS zur kommunalen Pflichtaufgabe machte und die Landesfinanzierung hierfür deutlich erhöhte. Dadurch wurden die Einstellung weiterer hauptberuflicher Kräfte und die Gliederung der Organisation und des Bildungsangebots in Fachbereiche ermöglicht. Nicht verhindern ließ sich allerdings, dass Stadt und Land ihre Zuschüsse später wieder drastisch kürzten. 2001/2006 folgte sodann als neue Fundierung der VHS-Arbeit das Hessische Gesetz über Weiterbildung und lebensbegleitendes Lernen (HWBG).
1973 war überdies die Villa Schnitzler in der Biebricher Allee 42, die der Stadt testamentarisch mit Maßgabe einer Nutzung durch die VHS übereignet worden war, als Kultur- und Unterrichtszentrum eingerichtet worden.
Von 1989 bis 2016 leitete Hartmut Boger die VHS, die heute in die fünf Fachbereiche Gesellschaft, Beruf und Karriere, Gesundheit und Natur, Sprachen sowie Kultur gegliedert ist. 1992 wurde die Akademie für Ältere gegründet, ein stadtweiter Kooperationsverbund von über 30 Einrichtungen der Altenbildung unter dem Dach der VHS, der in dieser Art bundesweit bislang einzigartig ist.
Das interkulturelle Projekt Tandem Deutsch-International, 1989 aus einem Seminar der VHS hervorgegangen, wird von dieser seitdem gemeinsam mit der Stadt und der evangelischen (Evangelische Stadtakademie Wiesbaden) sowie der Katholischen Erwachsenenbildung getragen.
Von 1968 bis 1992 hatte Günther Böhme, der seit 1953 als Dozent für Philosophie an der VHS wirkt, die Funktion des Vorstandsvorsitzenden des Trägervereins ausgeübt. Ihm ist Margarethe Goldmann gefolgt, von 1985 bis 1992 Schul- und Kulturdezernentin der Landeshauptstadt, die den Vereinsvorsitz bis Oktober 2009 innehatte. Aufgrund einer Satzungsänderung, die durch das HWBG nötig wurde, ist Rita Thies, Stadträtin für Kultur, Hochbau und Umwelt sodann Kraft Amtes Vorsitzende geworden. Seit 2011 übt Rose-Lore Scholz, Stadträtin für Schule, Kultur und Integration, dieses Amt aus. Die Landeshauptstadt Wiesbaden ist als Körperschaft Mitglied der VHS.
Anlässlich des im Jahr 1996 begangenen Doppeljubiläums – 75 Jahre Gründung und 50 Jahre Wiedergründung der VHS – hatte Oberbürgermeister Achim Exner der Einrichtung zwei vormalige Kasernengebäude auf dem Camp Lindsey als neues Domizil in Aussicht gestellt. Nachdem die Gebäude in der Alcide-de-Gasperi-Straße 4 und 5 von der Stadtentwicklungsgesellschaft Wiesbaden (SEG) saniert sowie funktional umgebaut worden waren, konnten sie von Exner am 18. September 1997, seinem letzten Amtstag, feierlich ihrer Bestimmung übergeben werden.
Derzeit stützt sich die VHS auf über 500 Lehrkräfte, allesamt Fachleute auf ihrem jeweiligen Gebiet, die regelmäßig auch selbst Weiterbildungsmaßnahmen in Anspruch nehmen. Mit rund 30.000 Teilnehmenden an über 2.000 Bildungsveranstaltungen, einem Finanzvolumen von rund fünf Millionen € pro Jahr und über 50 Kooperationspartnern ist die VHS eine für Wiesbaden und Umgebung unverzichtbare Bildungs- und Kultureinrichtung. Zusammen mit den fünf Volksbildungswerken Klarenthal, Bierstadt, Schierstein, Nordenstadt–Erbenheim–Delkenheim und AKK nimmt sie im Auftrag der Landeshauptstadt Wiesbaden nicht nur die kommunale Pflichtaufgabe öffentlicher Erwachsenenbildung wahr, sondern leistet gleichzeitig einen bedeutenden Beitrag zur Popularisierung und Stabilisierung demokratischen Denkens und Handelns. Auch das 1999 gegründete Freiwilligenzentrum Wiesbaden e.V., das eng mit der VHS verbunden ist, hat folgerichtig bei dieser seinen Sitz.
2016 bis März 2020 war Dr. Philipp Salamon-Menger Direktor der Volkshochschule Wiesbaden. In der durch Corona bedingt erschwerten Übergangszeit, übernahm Hartmut Boger als Interimsdirektor erneut die Leitung der VHS. Seit Mitte Mai 2020 ist Dr. Stephanie Dreyfürst, als erste Frau in der Geschichte der VHS Wiesbaden, neue Direktorin.
Im Stadtarchiv Wiesbaden befindet sich der Aktenbestand der Wiesbadener Volkshochschule.
Literatur
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Volkshochschule Wiesbaden (Hrsg.)
Bildung für alle! Kulturleben und Bildungsstreben in Wiesbaden seit 1800, Wiesbaden 2000.