Sprungmarken

Chemische Fabrik Kalle & Co.

1863 gründete der Chemiker Wilhelm Kalle am Biebricher Rheinufer eine Farbenfabrik, die unter seiner Leitung rasch expandierte und Weltruf erlangte.

Details

Die Chemische Fabrik Kalle & Co., später Kalle & Co. AG, in Biebrich wurde am 8. August 1863 als Kommanditgesellschaft von Dr. Paul Wilhelm Kalle gegründet. Kommanditist war anfangs kurzzeitig sein Vater Jakob Alexander Kalle (1796-1865), der als Kaufmann in Paris zu Vermögen gekommen war.

Das Unternehmen begann zunächst mit nur drei Arbeitern in angemieteten Räumen der ehemaligen Kurfürstenmühle am Biebricher Rheinufer und produzierte ausschließlich Farben, darunter seit 1879 „Biebricher Scharlach“. Die Farbe führte bei den Anwohnern zur Bezeichnung „Rotfabrik“.

1884 wurde mit der Produktion von Pharmazeutika begonnen. Teilhaber in der nunmehr offenen Handelsgesellschaft war von 1865-1881 Jakob Friedrich (Fritz) Kalle, der ältere Bruder des Gründers; 1897 wurde auch der Sohn des Gründers, Wilhelm Jakob Ferdinand Kalle, Teilhaber an der OHG. 1904 wurde Kalle in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. 1907 bildete die Kalle & Co. AG mit den Farbwerken Hoechst und den Cassella-Farbwerken eine durch wechselseitige Kapitalverflechtungen und Lieferbeziehungen geprägte Zweckgemeinschaft, wobei die Firmen ihre Selbstständigkeit behielten.

Unter Wilhelm Kalles mehr als 50-jähriger Führung erlangte die Firma Weltruf. Die Mitarbeiter, die 1863 aus drei Arbeitern bestanden, waren 1870 auf 50, 1904 auf fast 700 und 1913 auf 1.300 angewachsen. Wurden 1864 ca. 15 Farbsorten angeboten, hatte die Firma 1900 98 Patente und 160 Warenzeichen. Das Unternehmen Kalle legte von Anfang an Wert auf den Export. 1882 entstand in New York eine Niederlassung; 1884 entstand eine Fabrikanlage in Kolomna bei Moskau, 1892 ein Betrieb in Warschau. 1913 hatte die Firma weltweit 111 Niederlassungen; 80% der Produktion wurden im Ausland abgesetzt.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte dem Unternehmen schwere Einbußen infolge der Absperrung vom Weltmarkt zu. Die Nachkriegsjahre hatten aufgrund des Versailler Vertrages die Ablieferung der Farbvorräte, das Ende der Exporte und den Verlust aller Patente im Ausland zur Folge. 1920 erwarben die Farbwerke Hoechst die noch im Besitz der Familie Kalle befindlichen Aktien und bauten dadurch ihre bereits bestehende Majorität aus. 1924 bestand die Gefahr der Stilllegung des Betriebs und der Verlagerung der gesamten Produktion nach Hoechst, was verhindert werden konnte.

1925 schloss sich das Unternehmen Kalle, damals mit weit über 2.000 Beschäftigten, der I.G. Farbenindustrie AG an, zusammen mit der Mehrzahl der großen Chemieunternehmen in Deutschland, nachdem bereits seit dem Ersten Weltkrieg enge Vertragsbeziehungen untereinander bestanden hatten. Mit der Fusion zur IG-Farbenindustrie ergab sich allerdings eine vollständige Umstellung der Produktion. Die Erzeugung der bisherigen Produkte, Farben und Pharmazeutika, musste eingestellt werden.

Bereits 1923 hatte die Kalle & Co. AG mit der Produktion von Diazo-Lichtpauspapieren für die Ozalidkopie begonnen. Diese Diazotypie basierte auf einem lichtempfindlichen Papier mit großer Stabilität vor der Belichtung und hoher Lichtempfindlichkeit für scharfe Reproduktionen. 1920 war der erste Trockenprozess für Diazotypien auf den Markt gebracht worden, bei dem die Entwicklung durch Ammoniakdämpfe erfolgte. 1928 wurde die Produktion von Cellophan, 1929 die Herstellung von nahtlosen Wursthüllen unter der Marke Nalo aufgenommen, 1932 erfolgte die Markteinführung des Ozaphan-Films mit großer Bedeutung für die Filmindustrie und die Amateurphotographie. Seit 1939/40 wurden auch Kunststoff-Folien produziert.

1938 konnte ein neues Verwaltungsgebäude am Rhein bezogen werden. Die Belegschaft war auf 3.142 Mitarbeiter angewachsen. Der wirtschaftliche Aufschwung wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jäh unterbrochen. 1944 wurden durch Bombenangriffe 40% der Werksanlagen zerstört. Am Ende des Krieges wurde die Produktion eingestellt, die Firma unter alliierte Kontrolle gestellt und ein Teil der Anlage demontiert.

Bei der Aufteilung der I.G. Farben 1952 entstand die Kalle AG wieder neu als eigenständiges Unternehmen. 1972 wurde Kalle (mit nun rund 8.200 Mitarbeitern) in die Farbwerke Hoechst AG eingegliedert, 1974 umfirmiert in „Kalle, Niederlassung der Hoechst AG“, 1986 erneut umfirmiert in „Hoechst AG, Werk Kalle“ und 1989 mit dem benachbarten Werk Albert in Mainz-Amöneburg (zuvor: Chemische Werke Albert) zum „Werk Kalle-Albert“ der Hoechst AG zusammengelegt. Bald darauf begann der Umbau der Hoechst AG, verbunden mit einer erheblichen Personalreduzierung im Werk Kalle-Albert.

1997 wurde das Werk Kalle-Albert zum „Industriepark Kalle-Albert“, in dem heute zahlreiche Unternehmen ansässig sind, darunter Clariant, Agfa, Mitsubishi Polyester Film, SE Tylose und die heutige Kalle GmbH. Betreiberin des Industrieparks Kalle-Albert ist die „InfraServ GmbH & Co. Wiesbaden KG“.

Den traditionsreichen Namen „Kalle“ führt heute noch die „Kalle GmbH“ (gegründet 1995 als „Kalle Nalo GmbH“), die das Traditionsgeschäft mit industriell hergestellten Wursthüllen auf Viskose-, Polymer- und Textilbasis sowie mit den 1955 auf den Markt gebrachten Schwammtüchern auf Basis von Cellulose und Baumwollfasern weiterführt und in diesem Segment zu den weltweit führenden Produzenten gehört. Sie hat 1.250 Mitarbeiter.

Literatur

Kalle-Arbeiter präsentieren das Wundheilmittel „Jodol“, 1888. Fotograf Th. Voigt, Frankfurt. Stadtarchiv Wiesbaden
3 / 3